Der Schwede Sigurd Leverentz hat in zeitraubenden Entwurfsprozessen Gebäude geschaffen, die zu den aussergewöhnlichsten Werken der modernen Architektur zählen.
Stockholm ehrt mit einer grossen Ausstellung den schwedischen Architekten Sigurd Lewerentz (1885–1975). Der Zürcher Verlag Park Books erhielt die Ehre, den Katalog zu dieser Ausstellung zu vertreiben, wobei der Begriff Katalog bei diesem im wörtlichen Sinne gewichtigen, 710 Seiten umfassenden Wälzer eher unpassend ist. Wer Lewerentz genauer kennenlernen möchte, hat bis 28. August 2022 Zeit, im Museum ArkDes Stockholm sein zeichnerisches Werk und gleichzeitig in der Stadt seine wichtigsten Realisationen zu bestaunen.
Ein Multitalent
Reyner Banham, der mit seinem Standardwerk über den Brutalismus berühmt wurde, wollte es partout nicht gelingen, Lewerentz’ architektonische Sprache zu charakterisieren. Nach einem längeren Abschnitt, in dem er etwas verkrampft das Spezielle der St. Markuskirche in Stockholm herausschälen wollte, scheint er vor dem Versuch eines griffigen Urteils zu kapitulieren: «Die Markuskirche bleibt schliesslich ein Rätsel; sie wirft Fragen auf, erhellt jedoch keine mögliche Antwort, am allerwenigsten in bezug auf die Backsteinbrutalisten.»
Dieses Zitat wurde seither mehrfach aufgenommen. Lewerentz entzog sich während seines ganzen Lebens dem Zugriff der in Schubladen denkenden Kritiker. In seiner Ausbildung interessierte er sich für Belange des Ingenieurwesens genauso wie für die architektonische Entwurfsarbeit. Und als er 1911 seine Karriere als eigenständiger Unternehmer startete, beschränkte er sich nicht auf Architekturprojekte. Eine grosse Leidenschaft galt dem Industriedesign, was dazu führte, dass er 1940 eine Firma übernahm, die verschiedene Gebäudeteile, insbesondere Fensterrahmen und grossflächige Verglasungen erforschte und produzierte.
Aber auch Typografie interessierte ihn. Die Kataloge seiner Firma layoutete er vielfach selber, und die berühmteste Arbeit war das Plakat samt Logo für die Stockholmer Ausstellung 1930, welche in Schweden definitiv die Moderne einläutete. Nicht weniger als 15 Jahre beschäftigte er sich im Zusammenhang mit der Renovation der Kathedrale von Uppsala mit Fragen der Denkmalpflege. Die Suche nach geeigneten Materialien für die Instandstellung der gotischen Kirche, die im 19. Jahrhundert einschneidend verändert wurde, sollte bei Vorbereitungen für den Bau der St. Markuskirche von unschätzbarem Nutzen sein.
Manischer Zeichner
Die Institution ArkDes, das schwedische Zentrum für Architektur und Design, steht nicht nur für das Architekturmuseum, das sich zusammen mit dem Museum für moderne Kunst auf der malerischen Insel Skeppsholmen befindet, sondern ist auch Hüterin von rund 500 Nachlässen schwedischer Architekten mit rund zwei Millionen Dokumenten und Modellen. Auch der Nachlass von Lewerentz mit Tausenden von Plänen und Skizzen gehört dazu. In mehrjähriger Forschung ist das gesamte Material gesichtet worden. Eine Auswahl davon wird derzeit in sieben Räumen ausgestellt und in einer vom Park Books Verlag herausgegebenen umfassenden Monografie veröffentlicht. Sie dürfte bis auf Weiteres das Standardwerk bleiben.
Hatte Lewerentz einmal einen Auftrag erhalten, begann für ihn erst recht das Ringen um die endgültige Lösung. Den Bleistift in der Hand, füllte er Blatt um Blatt mit möglichen Varianten nicht nur in Bezug auf Details. Es überrascht nicht weiter, dass Lewerentz mit dieser Arbeitsweise die Auftraggeber zur schieren Verzweiflung trieb, abgesehen davon, dass die Budgetvorgaben selten eingehalten werden konnten. Es dauerte mitunter Jahre, bis ein Entwurf schliesslich realisiert wurde, und nicht immer war diese Verzögerung auf äussere Umstände wie politische Verwerfungen zurückzuführen. Obwohl Lewerentz sich zur industriellen Produktion hingezogen fühlte, war er im Atelier eher ein eigensinniger Künstler mit einer grossen Liebe zum Handwerk.
Keinem Stil verpflichtet
Lewerentz Gesamtœuvre ist überschaubar, verteilt sich aber auf rund sechzig Jahre. Er liess sich von der vernakulären Bauweise des bäuerlichen Lebens ebenso inspirieren wie von der klassizistischen Architektur, der sogenannten Nationalromantik, ferner von der Sprache des Neuen Bauens und des Brutalismus. Man könnte geneigt sein, bei so vielen Quellen von einer gewissen Beliebigkeit zu sprechen, doch dabei würde man übersehen, dass Lewerentz bei jedem einzelnen Auftrag das adäquate Vokabular suchte.
Die allerersten Arbeiten, ein Bootshaus und einige kleinere Häuser, lehnen sich durch die Verwendung von Holz an die in Skandinavien üblichen ländlichen Wohn- und Hofgebäude an. In der Friedhofsarchitektur hingegen — dem nebst dem Kirchenbau bedeutendsten Tätigkeitsgebiet — verwendete Lewerentz angesichts einer solch schwierigen Aufgabe klassizistisch geprägte Bauteile. In der Stockholmer Ausstellung 1930 verschrieb er sich mit seinen Beiträgen, etwa einem kleinen Wohnhaus für Arbeiter oder einem Café, einem eher funktionalistischen Programm. Und die beiden herausragenden Kirchenzentren St. Markus in Stockholm und St. Peter in Klippan sind derart eigenständig, dass nicht einmal Lewerentz’ Verweis auf persische Vorbilder möglichen historischen Quellen so recht zu erfassen vermag.
Spezialist für Friedhofarchitektur
Zusammen mit seinem gleichaltrigen und zeitweise ungleich berühmteren Kollegen Gunnar Asplund (1885—1940) gewann Leverentz 1915 den Wettbewerb für einen neuen Waldfriedhof in Stockholm und lediglich ein Jahr später, diesmal alleine, denjenigen für einen Stadtfriedhof in Malmö. Das sollte der Beginn einer jahrzehntelangen Auseinandersetzung mit dieser Bauaufgabe sein, die ansonsten nur in südlichen Ländern, insbesondere in Italien, als eine Herausforderung für Architekten geschätzt wurde und teilweise noch wird.
Auf einem grossen bewaldeten Areal südlich des Stadtzentrums von Stockholm galt es, die vorgegebene Landschaft sanft zu modellieren und die Bereiche für die Gräber zu bestimmen. Asplund und Lewerentz legten Achsen an, ordneten den Baumbestand, schufen sanfte Erhebungen und schlugen Standorte für die benötigten Kapellen vor. In Architekturpublikationen dominiert der letzte Eingriff, eine riesige offene Halle mit drei Kapellen am Rande einer weiten gewellten Wiese. Hierfür verantwortlich war Asplund, der kurz vor seinem Tod diesen wichtigen Auftrag bekam. Lewerentz wurde ausgebootet, was ihn zutiefst kränkte. Es wird kolportiert, dass die Behörden mit der Beteiligung von Lewerentz fürchteten, abermals Verzögerungen erdulden zu müssen, und das wollten sie nicht riskieren.
So bleiben Leverentz’ architektonische Spuren etwas verborgen. Sie führen in erster Linie zur Eingangssituation und zur Auferstehungskapelle, deren eigenartigerweise seitlich an den Bau gesetzter tempelartiger Portikus als Fluchtpunkt einer langen Gerade fungiert. Was bei der Landschaftsgestaltung auf Ideen von Lewerentz zurückgeht, ist schwierig zu eruieren. Gesichert ist der kleine Hügel mit einem runden, von Bäumen umgebenen Gedenkplatz, von dem man einen weiten Blick auf das ganze Areal hat. Das Leben geht weiter – dies wollte Lewerentz mit der starken Präsenz von Natur und den abzuschreitenden Wegen versinnbildlichen. Seit 1994 darf der Friedhof das Label Unesco-Weltkulturerbe tragen.
Überwältigende Backsteinarchitektur
Schon in seiner Frühzeit baute Leverentz Sakralräume, aber es waren fast ausschliesslich kleinere Kapellen im Kontext von Friedhöfen. Immerhin zeigt sich schon in diesen zahlreichen Beispielen, wie er den klassizistischen Stil mehr und mehr aufgibt. Besonders deutlich wird dies in den 1943 errichteten Zwillingskapellen St. Knut und St. Gertrud auf dem Friedhof in Malmö, bei denen der Backstein eine dominierende Rolle spielt und dekorative Elemente vollends fehlen. Das ist eine Annäherung an die Backsteingotik, die in Skandinavien beliebt war und etliche Vertreter der Nationalromantik prägte.
Mit den beiden Kirchenbauten St. Markus in Stockholm und St. Peter in Klippan ergriff Lewerentz, schon im vorgerückten Alter, die Chance, seine Version der Backsteinarchitektur zu präsentieren. Und das sollte alles in den Schatten stellen, was mit diesem Werkstoff bis anhin bewerkstelligt wurde. Die beiden Anlagen sind einmalig und schlicht überwältigend. Der Verlag Park Books fügte der erwähnten Monografie eine weitere Publikation zum Schaffen von Lewerentz hinzu: eine Liebeserklärung an die Stockholmer Kirche St. Peter mit eigens für diese Veröffentlichung geschaffenen Aufnahmen von Karin Björkquist sowie einer sorgfältigen Analyse des ganzen Komplexes.
Ehrliches Material
Als Lewerentz 1956 den Auftrag für St. Markus erhielt, wusste er noch nicht, ob ein Unternehmen einen Backstein herstellen könnte, der seinen Vorstellungen genügen würde. Nach lange Suche fand er in einer Firma in Helsingborg die ideale Partnerin. Die Backsteine mussten dunkler sein als üblich, was beim Brennprozess äusserste Sorgfalt erforderte. Lewerentz bestimmte, dass beim Bau nur ganze Stücke zur Anwendung gelangen durften. Für die Wände wurden keine zusätzlichen Träger und Stützen verwendet.
Das unterscheidet diesen Bau radikal von den Lösungen eines Mario Botta oder eines Renzo Piano, bei deren Bauten der Klinker lediglich als Camouflage dient, als Verkleidung massiver Beton- oder Stahlskelette. Lewerentz soll fast täglich den Bauplatz besucht und den Bauprozess detailversessen überprüft haben. Gleichzeitig gewährte er den Maurern eine gewisse Freiheit in Bezug auf Schichtung und Bestimmung der Mörtelmasse. Daraus ist eines der faszinierendsten Kennzeichen der ganzen Anlage entstanden. Der Mörtel quillt gleichsam aus den Fugen und überdeckt die Kanten der Backsteine. Was vordergründig als eine schlampige Ausführung erscheinen könnte, entpuppt sich als eine innovative ästhetische Lösung.
Der Kirchenraum ist dunkel und gemahnt an eine romanische Kirche (Bild ganz oben). Nichts stört die Struktur der Backsteine. Selbst die in Beton gegossenen unregelmässigen Wölbungen sind mit Backsteinen ausgefacht. Auch die Böden in den verschiedenen Räumen, Zugänge und der Vorplatz sind mit zugehauenen Platten aus gebranntem Ton oder aus Natursteinen bedeckt. Das Rohe und zugleich Erdige der Hülle kontrastiert mit dem lichten Birkenwald, der die ganze Anlage umgibt.
Die Organisatoren der Ausstellung sprechen geradezu euphorisch von einem der weltweit aussergewöhnlichsten Werke der modernen Architektur. Ich bin geneigt, diesem Urteil zuzustimmen.
Alle Fotos © Fabrizio Brentini
Das Museum ArkDes offeriert einen digitalen Zugang zur Ausstellung über Sigurd Leverentz: https://arkdes.se
Erwähnte Buchpublikationen:
Kirian Long/Johan Örn/Mikael Andersson, Sigurd Lewerentz. Architect of Death and Life, Park Books Zürich 2021, ISBN 978-3-03860-232-3, CHF 140
Sigurd Lewerentz Pure Aesthetics. St. Mark’s Church, Park Books Zürich 2021, ISBN 978-3-03860-243-9, CHF 69