Das Schweizerische Architekturmuseum in Basel zeigt im ersten Raum Fundstücke von Ausgrabungen in der Region. Und an der Wand ist in edler Antiquaschrift auf grauem Grund der Titel der gegenwärtigen Ausstellung aufgezogen: Tsuyoshi Tane – Archaeology of the Future. Für den 1979 geborenen japanischen Architekten ist die Ausstellung zugleich ein eigenständiges architektonisches Werk. Sie ist in seinem Gesamtverzeichnis integriert und hat das gleiche Gewicht wie seine überraschenden Realisationen, Wettbewerbsentwürfe, urbanistischen Konzepte, temporären Installationen und Bühnengestaltungen.
Bezüglich Gesamtverzeichnis ist jedoch eine Präzisierung erforderlich. Tsuyoshi Tane gründete 2006 in Paris zusammen mit Dan Dorell und Lina Ghotmeh ein Büro, das 2017 aufgelöst wurde, nachdem alle drei Partner eigene Ateliers gegründet hatten. In ihren Internetauftritten werden auch die gemeinsam erarbeiteten Entwürfe und Projekte aufgelistet. Somit müsste man ehrlicherweise hinzufügen, dass die Ausstellung in Basel nicht nur den einen Architekten, Tsuyoshi Tane, vorstellt, sondern auch seine ehemaligen Partner.
Estnisches Nationalmuseum
2006 gewannen Dorell, Ghotmeh und Tane mit einer bestechenden Idee den Wettbewerb für das neue estnische Nationalmuseum in Tartu. Das Gebäude wurde auf eine aufgegebene Militärflugzeugpiste aus der Sowjetzeit gesetzt und erscheint aus der Luft wie eine flache Rampe, die buchstäblich eine neue Schicht bildet (Bild ganz oben).
Das 2016 der Öffentlichkeit übergebene Monument steht denn auch für das Hauptanliegen von Tsuyoshi Tane, das architektonische Artefakt aufgrund einer minutiösen Analyse nicht nur der gestellten Bauaufgabe, sondern auch der Geschichte des Ortes zu entwickeln. Es versteht sich von selbst, dass dadurch eine einheitliche und wiedererkennbare architektonische Sprache gar nicht möglich und auch nicht wünschenswert ist. Das ist denn auch das Thema der Installation von Basel, die einerseits eine klassische Retrospektive ist, andererseits ein Standbild der gestalterischen Prozesse einfriert.
Tsuyoshi Tane richtete diese Installation erstmals 2018 in Tokyo ein, wiederholte sie 2019 in São Paolo und zeigt sie nun, leicht verändert, in Basel erstmals in Europa. Der Titel «Archaeology of the Future» spielt zunächst auf die erwähnte historische Untersuchung an, deutet aber zugleich an, dass diese Recherche für die Zukunft nutzbar gemacht werden soll.
In einem Nebenraum sind alle Projekte und Realisationen seit 2006 – das sind insgesamt rund 120 – mit je einer Art Dateikarte dokumentiert. Zu 21 Werken sind auf Tischen Booklets zum Blättern aufgelegt. Im letzten Raum projizieren Beamer Fotos von 20 umgesetzten beziehungsweise in Modellen weit fortgeschrittenen Arbeiten auf drei Wände. Die Hauptattraktion sind jedoch die zwei grössten Säle, die wimmelbuchähnlich mit Modellen, Materialsammlungen, Plänen, Büchern und unzähligen Bilddokumenten bespielt werden.
Man ist als Besucher, als Besucherin gefordert. Der Blick schweift ruhelos von Modellen zu Skizzen, von diesen zu den an die Wand gepinnten Fotodokumenten und von Hand gekritzelten Notizen. Auffallend, wohltuend auffallend, ist das Fehlen von astreinen, am Computer erzeugten Renderings. Die Schau zeugt von aufwändiger Handarbeit. Zur archäologischen Forschung gehört das Stöbern in der allgemeinen Kulturgeschichte. Formale und inhaltliche Zusammenhänge werden dadurch gefunden, dass die entsprechenden Dokumente zu Gruppen geordnet werden.
Langer Weg zu minimalistischer Form
Die Modelle des estnischen Nationalmuseums sind durch historische Aufnahmen vom Gelände, von Alltagsgegenständen, von Volksbräuchen ergänzt. Auf anderen Wandausschnitten sind Beispiele von Pyramiden, Spiralen oder Essgemeinschaften in den unterschiedlichsten Situationen zu sehen. Wer sich derart umfassend mit Bildideen aus Vergangenheit und Gegenwart auflädt, läuft Gefahr, dass sein Entwurf mit Zitaten erstickt wird. Das war die Falle, in welche die Architekten der Postmoderne tappten.
Bei Tsuyoshi Tane gibt es keine Beliebigkeit, im Gegenteil. Die formalen Lösungen sind ausgesprochen diszipliniert, teilweise sogar minimalistisch. Sie erinnern ein wenig an die Werke von Peter Zumthor. Kennzeichnend sind die sorgfältige Auswahl der Werkstoffe, wovon die zahlreichen Materialmuster in den Gestellen zeugen, sowie der Dialog mit der Natur.
Ein beeindruckendes Beispiel ist das Kulturzentrum in Kyoto, das nächstes Jahr eröffnet wird. Über einem kreuzförmigen Grundriss erhebt sich eine Stufenpyramide, die gitterartig mit diagonal verbundenen Holzleisten versehen ist. Das frei gebliebene Grundstück wird ebenso üppig bepflanzt wie die obersten Stufen.
Einklang mit der Natur
Noch stärker in Einklang mit der Natur steht das Haus Todoroki in Tokyo, das aus einem verglasten Erdgeschoss und einem polygonal gebrochenen, mit Holz verkleideten zweigeschossigen Aufbau besteht und gänzlich von Bäumen und Farnsträuchern eingerahmt ist. Beim Haus in Oiso scheint eine Art Urhütte über gemauerten und bepflanzten Raumeinheiten zu schweben – eine Paraphrase der traditionellen japanischen Wohnkultur. Von diesen drei erwähnten Gebäuden wurden grosse Modelle konstruiert, die in der Ausstellung zu den faszinierendsten Objekten gehören.
In der Schweiz konnte Tsuyoshi Tane 2019 ein stilles Werk realisieren. Es handelt sich um den Umbau einer Kapelle in Rossinière, Kanton Waadt, zu einer Art Gedenkstätte für den Maler Balthus, der 2001 dort verstarb.
Die Ausstellung «Tsuyoshi Tane: Archaeology of the Future» im Schweizerischen Architekturmusuem Basel dauert noch bis 28. Februar 2021.