Genau 44 karge Worte zählt das Communiqué aus dem Elyséepalast im französischen Original, das letzten Mittwoch veröffentlicht und von Präsident Hollande unterzeichnet wurde.
„Am 17. Oktober 1961“, heisst es da, „wurden Algerier, die für das Recht auf Unabhängigkeit demonstrierten, im Rahmen einer blutigen Repression getötet. Die Republik erkennt diese Fakten mit offenen Augen an. 51 Jahre nach dieser Tragödie verneige ich mich in Erinnerung an die Opfer.“
Eine friedliche Demonstration – Dutzende Tote
Es war ein regnerischer Herbsttag, als sich damals am frühen Abend rund 30‘000 Algerier - Männer, Frauen und Kinder - aus den Pariser Vorstädten und den damals noch existierenden Elendssiedlungen in Nanterre, Bezons, Puteaux und Courbevoie – wo heute das Pariser Manhattan „La Défense“ prangt - auf den Weg in die Pariser Innenstadt machten. Sie hatten ihre besten Kleider angezogen, sich herausgeputzt, wie für einen Sonntagsspaziergang, die meisten der Männer trugen Krawatte. Vierzehn Tage war es bereits her, dass der französische Innenminister in Paris ein nächtliches Ausgangsverbot nur für Algerier verhängt hatte. Dagegen und für das Recht auf Unabhängigkeit Algeriens wollten die 30‘000 in Würde und friedlich demonstrieren. Doch die Demonstration endete in einem Massaker, das bis heute einer der dunkelsten Punkte in der schmerzhaften Geschichte des Algerienkriegs bleiben sollte.
Ein Algerienkrieg, der in Frankreich überhaupt erst seit 1999, als Lionel Jospin Premierminister war, offiziell als „Krieg“ bezeichnet wird und an jenem Tag des 17. Oktober 1961 bereits in den letzten Zügen lag. Seit Juli 1961 schon führten die französische und die algerische Seite damals an verschiedensten Orten in der Schweiz diskrete Verhandlungen über einen Waffenstillstand, der dann – nur fünf Monate nach dem 17. Oktober 1961- in Evian unterzeichnet werden sollte.
Doch Premierminister Michel Debré, Innenminister Roger Frey und vor allem der damalige Polizeipräfekt von Paris, Maurice Papon, waren offensichtlich fest entschlossen, diese verbotene Demonstration am 17. Oktober mit allen Mitteln zu unterdrücken.
Vom Süden her strömten die Algerier Richtung Boulevard Saint-Michel, vom Osten her zum Platz der Republik, von wo aus sie auf den grossen Boulevards Richtung Oper zogen. Hier wie dort, wurden sie von den Ordnungskräften mit Knüppeln empfangen, geschlagen, getrieben, verhaftet, in den Bussen der Pariser Verkehrsbetriebe – wie einst bei den Razzien gegen Juden während der deutschen Besatzung - zu Tausenden in ein Sportstadion geschafft und dort erneut geprügelt, manche getötet und in die Seine geworfen. Diejenigen Algerier, die aus ihren Elendsquartieren westlich von Paris in die Stadt und auf die Champs-Elysées ziehen wollten, wurden bereits am „Pont de Neuilly“ von den Ordnungskräften erwartet – dort sollen besonders viele von ihnen einfach in die Seine geworfen worden sein. In den Tagen danach hat man an den verschiedensten Orten des Flusses Dutzende Leichen aus dem Wasser gefischt.
Das grosse Schweigen
Dieser 17. Oktober 1961 und die blutigen Ereignisse in und am Rande von Paris waren in Frankreich Jahrzehnte lang ein vom politischen Establishment, ob rechts oder links, rigoros gehütetes Staatsgeheimnis, ein Geschehen, über das es galt, mit aller Macht den Mantel des Schweigens zu hüllen. Diejenigen, die in den Jahren unmittelbar danach versuchten, dieses staatlich verordnete Schweigen zu brechen, lassen sich an den Fingern einer Hand abzählen.
Claude Bourdet, der grosse Widerstandskämpfer der Organisation „Combat“, der in den Dreissigerjahren an der ETH in Zürich studierte, der auch die Konzentrationslager von Neuengamme und Buchenwald überlebte und Anfang der Sechzigerjahre die Vorgängerin der Wochenzeitung „Nouvel Observateur“ gründete, war als linker Stadtrat von Paris damals einer der ganz wenigen, die laut die Stimme erhoben und Aufklärung forderten.
30 Jahre lang waren die Ereignisse dieses 17. Oktobers 1961 ein absolutes Tabu geblieben. Erst Anfang der Neunzigerjahre erschienen die ersten Bücher mit Berichten von Augenzeugen und wenigem, mühsam zusammengesuchtem Archivmaterial.
Erst 2001 sollte dann der neu gewählte sozialistische Bürgermeister von Paris, Betrand Delanoë, eine erste öffentliche Geste tun, indem er eine allerdings fast peinlich kleine Gedenktafel an der Seine-Brücke zwischen der Île de la Cité und dem Beginn des Boulevard Saint-Michel anbringen liess. Ihr allgemein gehaltener Text zeugt davon, wie wenig Genaues man bis heute über die Ereignisse von damals weiss:
„Zum Gedenken an die zahlreichen Algerier, die im Lauf der blutigen Repression einer friedlichen Demonstration am 17. Oktober 1961 getötet wurden“, steht auf der Tafel. Doch die Fragen bleiben bis heute, auch nach der Erklärung von François Hollande: Wie viele Tote? Wer hat getötet? Auf wessen Befehl? Wie? Und warum?
Nach Polizeiangaben waren es drei Tote. Die Forscher sprechen von über 200, bei der jährlichen Gedenkzeremonie am letzten 17. Oktober sprach der Vertreter einer Organisation der Opfer von 422.
Es scheint aus heutiger Sicht kaum denkbar, dass diese Ereignisse jahrzehntelang schlicht zu Tode geschwiegen werden konnten. Doch offensichtlich ist es so: Ein halbes Jahrhundert hat es gebraucht, bis Präsident Chirac im Juli 1995 öffentlich sagen konnte, dass Frankreich unter der deutschen Besatzung eine Mitverantwortung an der Deportation von über 70‘000 Juden trug. Ein ebenso langer Zeitraum, ein halbes Jahrhundert, war offensichtlich nötig, bis François Hollande jetzt – und sei es nur per Communiqué – sagen konnte: Frankreich erkennt an, dass an einem Oktobertag 1961 friedlich demonstrierende Algerier von den Ordnungskräften der Republik getötet wurden.
Der nächste Schritt?
Die längst überfällige, symbolische Geste ist getan. Die heute noch lebenden Algerier, die die Ereignisse dieses 17. Oktobers miterlebt hatten und die Nachfahren der Getöteten oder Geprügelten, haben sie dankbar und erleichtert zur Kenntnis genommen.
Damit es aber nicht bei der Symbolik bleibt, müsste der französische Staat nun endlich auch die Archive der Pariser Polizei öffnen. Offiziell sind die aber noch rund 20 Jahre unter Verschluss. Bleibt es dabei, bleibt das knappe Communiqué von François Hollande ein symbolischer Akt, ohne dass die Aufarbeitung der Geschichte vorankommen könnte.
Ein Akt, der aber nach Jahren der Eiszeit zumindest ein erster Schritt sein könnte, mit Algerien endlich normalisiertere Beziehungen aufnehmen zu können. Denn ein halbes Jahrhundert nach Kriegsende gibt es zwischen den beiden Ländern, die durch das Schicksal von Millionen Menschen und durch eine gemeinsame, fast 200-jährige Geschichte engstens miteinander verbundenen sind, immer noch keinen Freundschaftsvertrag. Seit 20 Jahren ist davon immer wieder die Rede. Jetzt heisst es, François Hollande möchte diesen Vertrag vor Ende seiner Amtszeit unterzeichnen. Vor Ende des Jahres 2012 wird der französische Präsident jetzt erstmals zu einem offiziellen Besuch in Algerien erwartet. Die Geste der letzten Woche hat gewiss auch mit diesem Termin zu tun.
Maurice Papon
Frankreichs konservative Opposition hat sich mit ihren Reaktionen auf Präsident Hollandes Vorstoss wahrlich nicht mit Ruhm bekleckert. Der Fraktionsvorsitzende der konservativen UMP-Partei nannte den Schritt des Präsidenten „unerträglich“ und sagte wiederholt, kein anderer französischer Präsident habe es je gewagt, so weit zu gehen.
Diesem Fraktionsvorsitzenden möchte man gerne eines ins Gedächtnis rufen. Derjenige, der vor 51 Jahren die Pariser Polizisten und Gendarmen auf die friedlich demonstrierenden Algerier losgelassen hat, kam aus seinem eigenen, konservativen Lager und hiess Maurice Papon. Der 1919 geborene hohe Beamte war damals, 1961, Polizeipräfekt von Paris und später, unter Präsident Giscard d'Estaing und Premierminister Raymond Barre sogar Haushaltsminister der französischen Republik.
Dies alles auch nur dank eines Mantels des grossen Schweigens, den man über seine, Maurice Papons Vergangenheit, geworfen hatte. Auch in seinem Fall hatte es ein halbes Jahrhundert gebraucht, bis man ihn später, in den Neunzigerjahren, als er schon ein Greis war, wegen Beihilfe zum Verbrechen gegen die Menschlichkeit anklagen und letztlich zu zehn Jahren Haft verurteilen konnte. Als Generalsekretär der Präfektur von Bordeaux hatte Maurice Papon 1942 massgeblich an der Deportation von 1400 Juden mitgewirkt. Nach dem Krieg hatte das in Frankreich offensichtlich weder De Gaulle noch seine Nachfolger Pompidou und Giscard d'Estaing, die das wissen mussten, gestört.
Die französische Kunst des Krieges
Es mag in diesem Zusammenhang bezeichnend sein, dass der Algerienkrieg und seine Auswirkungen auf die französische Gesellschaft erst ein halbes Jahrhundert später und ganz langsam Eingang in die französische Gegenwartsliteratur finden.
Alexis Jennis Erstlingsroman „Die französische Kunst des Krieges“, der 2011 den wichtigsten Literaturpreis, den Goncourt, erhalten hatte und dieser Tage auf Deutsch erscheint, war von daher im Grunde eine Sensation. Dieser epische, 700 Seiten dicke Roman macht mit grosser Eindringlichkeit nachvollziehbar, wie die Kolonialvergangenheit und der Algerienkrieg bis heute in der französischen Gesellschaft, etwa in den Vorstadtghettos des Landes nachwirken und dort ein Grund für den latenten Rassismus sind.
Die Hauptfigur des für Frankreich heute so wichtigen Romans ist eine, wie es sie im Land zehntausendfach gab und noch gibt: Anfang der Vierzigerjahre, mit nicht mal 20, war der inzwischen fast 80-jährige Salagnon im Widerstand gegen die Nazis aus der Bahn geworfen worden. Danach wurde er Berufssoldat, erst in Indochina und unmittelbar danach in Algerien - in den schmutzigen Kolonialkriegen also, in denen, wie Jenni sagt, „auf französischer Seite mit Mitteln und Methoden gearbeitet wurde, unter denen die Franzosen nur wenige Jahre zuvor während der Besatzung durch die Nazis selbst gelitten hatten“.
Erstaunlich blieb, dass die Brisanz dieser Thematik im Werk von Jenni von der französischen Kritik nur unzureichend gewürdigt wurde und der Roman als solcher im letzten Winter sehr schnell auch wieder aus der öffentlichen Debatte verschwunden war.