Villefranche de Rouergue liegt mit seinen 12’000 Einwohnern im Département Aveyron südwestlich des Zentralmassivs. Nach Toulouse ist es noch eine Dreiviertelstunde. Villefranche war einst eine stolze Stadt in einem der ärmsten Departements Frankreichs, aus dem seit Beginn des 20. Jahrhunderts Hunderttausende aus purer Not nach Paris gegangen waren, um sich zu verdingen.
Im Laufe der Jahrzehnte wurden sie dort zu einer Legende im Bistrot- und Gaststättengewerbe. Die berühmten „Bougnats“, die in ihren Kneipen nicht nur Getränke ausschenkten und eine kräftige Mahlzeit anboten, sondern gleichzeitig noch Holz und Kohle verkauften und lieferten und, wenn es sein musste, für ihre Kunden am späten Abend auch noch den Taxifahrer machten – sie kamen fast alle aus diesem Departement. Bis heute bilden die „Aveyronnais“ in der französischen Hauptstadt eine mächtige Lobby im Gaststättengewerbe und im Getränkehandel.
Bastide
Die Innenstadt von Villefranche de Rouergue ist ein Schmuckstück, eine dieser rund gebauten, wehrhaften „Bastides“ mit den Hauptachsen Nord–Süd und Ost–West. Ansonsten ziehen sich nur extrem enge Gassen durch den Stadtkern, wo sich die Fensterläden der sich gegenüberliegenden Häuser beim Aufschlagen fast berühren können. In der Region gibt es Dutzende derartiger Städte, die für Touristen aus dem Norden ein Augenschmaus sind.
Das Zentrum von Villefranche hat zudem einen der schönsten und beeindruckendsten geschlossenen Stadtplätze Frankreichs mit Laubengängen und schmalen, vierstöckigen Häusern, manche aus dem beginnenden 16. Jahrhundert, und einer majestätischen, schief in den Platz hinein ragenden Kathedrale.
Am Markttag alles bestens
Und wenn am Donnerstag Markt ist, dann brodelt es auf dem leicht geneigten Platz, selbst auf den Treppen der Kathedrale sind Stände aufgebaut und quellen über mit bestem Obst und Gemüse und den köstlichsten Wurstwaren der Region, ganz zu schweigen von den Konservenbergen mit allem, was sich aus gestopften Enten so herstellen lässt.
Um sich durch die Massen zu drängen, braucht man für hundert Meter eine gefühlte Viertelstunde – eben so lange, bis man in einer der überfüllten Kneipen eine Bestellung loswerden kann. Geschäftiges Treiben und perfekte Idylle eines südfranzösischen Wochenmarkts.
Am Tag danach
Doch wehe, man kommt am darauf folgenden Tag wieder! Es ist 18 Uhr und die Cafés auf dem wunderschönen Platz der Altstadt haben kaum Kunden, ein paar Jugendliche hängen herum, die Strassen sind leergefegt, nur einige verlorene Touristen irren durch die Kulisse. Plötzlich wird sichtbar, was im Rummel des Markttages verborgen blieb. Es gibt praktisch keine Strasse, in der nicht ein, zwei oder drei Geschäfte die Rollläden heruntergelassen haben oder wo hinter verschmutzten Schaufenstern gähnende Leere herrscht. Oft lassen die Verkaufsschilder erkennen, dass sie hier schon seit Jahren hängen.
Damit der Anblick mancher Strassen nicht ganz so trist ist, hat man sich im Rathaus von Villefranche etwas ganz Besonderes einfallen lassen. Schaufenster und Eingangstüren von dutzenden leeren Boutiquen sind gänzlich hinter grossflächigen Fotos verschwunden, auf denen glückliche und zufriedene Menschen verschiedenster Altersgruppen in beliebigen Szenen aus dem Stadtleben zu sehen sind. Auf der Tür ist die Folie auf Augenhöhe von zwei schwarzen Löchern durchbrochen, unter der Aufschrift: „Dieses Lokal wartet nur auf Sie. Schauen Sie es sich an!“ Ein verzweifelter, ja pathetischer Versuch, Mieter zu finden.
Vorgetäuschte Tatkraft
Villefranche de Rouergue ist dabei nur eines von 2 bis 300 Beispielen im Land, wo in Städten zwischen 10 und 100’000 Einwohnern das Leben in den Stadtkernen nach und nach vor die Hunde gegangen ist. Eine Entwicklung, die schon vor über 30 Jahren ihren Anfang nahm, der man aber lange keine grosse Beachtung geschenkt hatte. Die Gründe für diese Entwicklung sind fast überall dieselben.
Bürgermeister, denen es immer seltener gelingt, für ihre Stadt Industriebetriebe anzulocken, setzen, um zu zeigen, dass sie aktiv sind und für Arbeitsplätze sorgen wollen, Geschäfts- und Einkaufviertel auf die grüne Wiese in die Peripherie der Städte.
Das hässliche Frankreich
Es sind diese Ansammlungen von extrem hässlichen, grellfarbenen Gebäuden aus Leichtmetall mit ihren schreienden Werbetafeln: gigantische Super- und Hypermärkte, Bastler- und Möbelgeschäfte, Autohandel und Gartengeschäfte, stets dieselben Marken zur Ausstattung von Haus und Heim, hier noch ein Fast-Food-Restaurant, dort eine Autowaschanlage oder eine Tankstelle, alles völlig anarchisch angeordnet.
Hundertfach hat Frankreich mit diesen Konglomeraten seine Ortseingänge oder Ausgänge gnadenlos verschandelt und auf diese Art ganz nebenbei den Geschäften in den Stadtzentren das Wasser abgegraben. „Jedem Bürgermeister seinen Supermarkt“ ist in Frankreich mittlerweile ein geflügeltes Wort. Herausgekommen dabei ist „das hässliche Frankreich“ – „La France Moche“, über das sogar der ehemalige Kulturminister Jack Lang jüngst eine Schrift veröffentlicht hat.
Erst im vergangenen Jahr gab es so etwas wie einen Aufschrei gegen diese Entwicklung im Land. Zum einen legte das statistische Bundesamt eine Studie vor, die das ganze Ausmass der Katastrophe im Lauf der letzten 15 Jahre darlegt. Gleichzeitig erschien ein viel beachtetes Buch unter dem Titel : „Wie wir unsere Stadtzentren getötet haben“. Und die Geschäftsleute in mehreren Innenstädten machten mit teils spektakulären Aktionen auf ihre Situation aufmerksam. Grosses Aufsehen erregte dann auch noch ein Artikel der „New York Times“ zu diesem Thema, der sich das Zentrum von Albi vorgeknöpft hatte, der ockerfarbenen Stadt mit ihrer Kathedrale aus dem 13. Jahrhundert. Der Bürgermeister klagte wegen Rufschädigung – als könnte man das Problem wegklagen.
Leerstand
Die Studie des statistischen Bundesamtes zeigt: In 190 ausgewählten französischen Innenstädten mit weniger als 100’000 Einwohnern ist der Leerstand von Geschäften von 6 Prozent im Jahr 2001 innerhalb von 15 Jahren im Schnitt auf über 10 Prozent angestiegen. In vielen Innenstädten steht sogar jedes fünfte oder gar vierte Geschäft leer. Spitzenreiter ist die südfranzösische Stadt Beziers, wo es 25 Prozent sind, 2001 waren es noch keine 10 Prozent.
Und noch etwas haben Soziologen und Statistiker herausgefunden. In fast allen Städten mit ausgestorbenen Zentren, wo nicht nur Geschäfte, sondern auch zusehends Wohnungen leer stehen, die Häuser langsam herunterkommen und überdurchschnittlich viele Sozialhilfeempfänger und Ausländer wohnen, fährt der rechtsextreme Front National bei Wahlen die besten Ergebnisse ein. Beziers, das seit 2014 einen vom Front National unterstützten Bürgermeister hat, ist nur ein Beispiel dafür.
Beispiel Montelimar
Niemand sieht so recht, wie sich etwas bessern könnte, angesichts der Tatsache, dass bis heute Geschäftsneugründungen in Frankreich zu 90 Prozent in der Peripherie stattfinden und nicht mal alle direkt betroffenen Bürgermeister das Problem beim Schopf packen – im Gegenteil.
In Montélimar zum Beispiel, im südlichen Rhonetal, tobt schon seit Jahren der Krieg zwischen Innenstadt und Peripherie. Auch hier stehen rund 20 Prozent der Geschäfte in der Altstadt leer. Derweil sind im südlichen Gewerbegebiet ohnehin schon fast alle Marken der gigantischen Supermärkte von „Géant“ bis „Leclerc“ vertreten, während die Innenstadt zusehends in der Tristesse versinkt.
Jüngst hatten die verbliebenen Geschäftsleute im Zentrum einen Vormittag lang die Rolläden ihrer Boutiquen geschlossen gehalten, um gegen ein zusätzliches, riesiges Einkaufszentrum zu protestieren, das im Norden der Stadt entstehen soll. Der Bürgermeister von Montelimar hatte sich 2014 wiederwählen lassen mit dem Versprechen, dieses Projekt zu verhindern.
Kaum ein Jahr später hatte er seine Meinung schon wieder geändert und war vor der allmächtigen Lobby der französischen Handelsriesen in die Knie gegangen. Es ist, als hätte er die Waffen gestreckt vor dem Niedergang seines Stadtzentrums, dessen Bausubstanz langsam verkommt, das grösstenteils von den Ärmsten und Ausländern bewohnt wird und wo ab 19 Uhr kein Leben mehr herrscht. Resultat auch hier: Marine Le Pen hat im ersten Durchgang der Präsidentschaftswahlen 2017 in Montelimar mehr Stimmen bekommen als Emmanuel Macron und im zweiten immerhin über 36 Prozent.
Wann schliesst der Buchladen?
Im eingangs erwähnten Städtchen Villefranche de Rouergue sieht auch Michèle keinen Hoffnungsschimmer am Horizont. Die frisch pensionierte Juristin verbringt die Hälfte des Jahres am Rande dieser Stadt, in der sie in den 50er und 60er Jahren einen Teil ihrer Kindheit und Jugend durchlebt und vor einigen Jahren das Haus des Vaters geerbt hat.
Geradezu empört und zugleich schon resigniert geht sie durch die grösseren Strassen des alten Zentrums und klagt, dass sie hier ihren Schuster verloren hat, dort ein Schuh- und ein Bekleidungsgeschäft zugemacht hat. Einen Metzger muss man lange suchen, selbst Bäckereien machen sich rar. Dafür gibt es Tattoo-Zentren, einen Friseursalon für Hunde oder das eine oder andere Andenkengeschäft und Läden, denen man jetzt schon ansieht, dass sie nur für die Sommersaison gemietet wurden. Ein akzeptables Restaurant in den Mauern der alten Bastide kann Michèle guten Gewissens auch nicht mehr empfehlen. Geblieben ist bisher noch ihr Buchladen. Doch auch hier fragt sie sich schon, ob er im kommenden Sommer noch da sein wird.
Französische Besonderheit
Dass diese Entwicklung nicht gottgegeben, sondern sehr wohl ein hausgemachtes, französisches Problem ist, zeigt eine vergleichende Statistik aus dem vergangenen Jahr. Danach werden in Frankreich mittlerweile 62 Prozent der Waren in den grossen Einkaufszentren der Peripherie gekauft, nur noch 24 Prozent in den Stadtzentren und 14 Prozent in den Stadtvierteln.
Im Nachbarland Deutschland verbucht jeder der drei Bereiche ungefähr ein Drittel der Umsätze für sich, ähnlich sieht es in Italien aus. Das Aussterben der französischen Stadtzentren wirkt heute, als habe man dem Land das Blut ausgesogen. Die Tristesse von aberdutzenden Stadtkernen zwischen dem bretonischen Saint-Brieuc im Nordwesten und Brignoles im Südosten, zwischen Forbach an der Grenze zum Saarland im Nordosten und Albi im Südwesten, erscheint wie eine Begleitmusik zum tief sitzenden Pessimismus und Unmut der Franzosen und eines gewissen ökonomischen Niedergangs.
Nächste Katastrophe
Und die nächste Katastrophe, die aus dem Verlassen und dem Verfall der Innenstädte resultiert, steht bereits vor der Tür. Bislang ist es ohnehin schon ein städtebauliches Desaster, in den nächsten Jahrzehnten wird es eine menschlich-finanzielles werden:
Hunderttausende, ja Millionen Franzosen, die die Stadt- und Ortszentren verlassen haben, wohnen heute in relativ billigen, schmucklosen und sich ähnelnden Einfamilienhäusern mit schlechtester Bausubstanz, verstreut an der Peripherie der Städte. Sie besitzen dort Häuser, die schon nach 30 bis 40 Jahren baufällig werden und die – wenn die Kredite dann endlich abbezahlt sind und die Besitzer in Rente gehen – praktisch keinen Wert mehr haben und die Bauruinen der kommenden Jahrzehnte sind.