Erstmals wird dort auf internationaler Ebene ein Phänomen der Kolonialgeschichte beleuchtet, dessen Bedeutung und Ausmasse der grossen Öffentlichkeit bislang kaum bewusst gewesen sind. Die Rede ist von "Menschenzoos" - der massenhaften Zurschaustellung von Asiaten, Indianern, Afrikanern sowie den Bewohnern des Pazifiks in den Grosstädten der westlichen Welt in der Zeit zwischen 1800 und 1940.
Im Grunde begann alles bereits Ende des 15. Jahrhunderts. Als Christoph Columbus von seiner ersten Expedition zurück kam, hatte er sozusagen im Reisegepäck sechs Indianer mitgebracht und präsentierte sie stolz am spanischen Hof. Ein dänischer Seefahrer entführte Jahrzehnte später mehrere Inuits aus Grönland und präsentierte sie ebenfalls seinem König – ein Gemälde mit dieser Szene eröffnet die Ausstellung.
Populäre Ethnologie
Fast drei Jahrhunderte lang faszinierten die Bewohner der damaligen Kolonialgebiete überwiegend nur Europas Königs- und Adelshäuser und einige Privilegierte – die breite Masse der europäischen Bevölkerung wusste so gut wie nichts von ihnen. Und doch: Die Aquarellkopie eines Werkes aus dem Jahr 1599 zeigt den „Umzug der Königin Amerika auf dem Stuttgarter Fasching“ - eine Personengruppe mit bunten Blumenröckchen, die Frauen barbusig, manche mit Federn geschmückt – die Vorstellung, die sich eine Faschingsgruppe im Schwabenland ein Jahrhundert nach Christoph Columbus vom fernen Anderen gemacht hat, ist hier dokumentiert.
Im ausgehenden 18. Jahrhundert, besonders aber in der ersten Hälfte des 19., nahm sich die Wissenschaft der exotischen Menschen an, hat ihre Anatomie und Schädelformen vermessen und untersucht - eines der eisernen Messgeräte jener Zeit ist in einer Glasvitrine ausgestellt. Das waren Untersuchungen, auf die Wissenschaftler wie der Franzose Gobineau oder der Schwede Linné schliesslich ihre Rassentheorien gründeten.
"Hottentotten Venus"
Diese Arbeiten wurden im Laufe des 19. Jahrhunderts begleitet vom immer stärker expandierenden Phänomen der öffentlichen Zurschaustellung von Menschen aus anderen Kontinenten – oft in den Zoos hinter Gittern, wie die Tiere nebenan, später dann auf Jahrmärkten, im Panoptikum oder gegen Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts in grossen Festhallen bei den so genannten Völkerschauen – wie ein Kuriositätenkabinett aus lebenden Menschen.
Die berühmte „Hottentoten-Venus" - so ihr Spitzname - die ausgerechnet im Jahr der Französischen Revolution 1789 geborene Sarah Bartmann mit dem ausladenden Gesäss, hatte 1805 den Anfang gemacht. Jahrelang standen die Menschen damals bei verschiedensten Gelegenheiten in Paris und in London Schlange, um die Kuriosität mit eigenen Augen zu sehen. In der Ausstellung ist die Hottentoten-Venus mit einem Gemälde aus dem Jahr 1810 vertreten. Drei Jahre später war die junge Frau tot. Ihr Skelett wurde noch bis vor 25 Jahren im völkerkundlichen Museum in Paris ausgestellt.
Das Phänomen des "Menschenzoos"
Die Ausstellung mit rund 700 Exponaten zeigt Spuren dieses bislang wenig beachteten Kapitels der Kolonialgeschichte in Form von Plakaten, Zeichnungen, Postkarten, aber auch von Fächern und Tischdecken, in Form von Puzzles oder Werbedokumenten, Gemälden und Skulpturen. In der Zeit von 1800 bis in die 30er Jahre des 20. Jahrhunderts wurden rund 35 000 Menschen aus den Kolonialgebieten - die einen mit Gewalt dazu gezwungen, andere auf Vertragsbasis - in Europas Grosstädten einschliesslich Moskau, aber auch in Japan, in Australien, ja sogar in Südafrika zur Schau gestellt, sagt einer der grossen Spezialisten des Themas, der Historiker Pascal Blanchard, der ziemlich genau vor zehn Jahren das erste Buch über das Phänomen der „Menschenzoos“ herausgebracht hat.
„Unsere Idee“, so Blanchard, einer der drei Kuratoren, „war zunächst mal, das Ausmass des Phänomens zu zeigen." Fünf Jahrhunderte hat die Zurschaustellung gedauert und insgesamt rund 1,4 Milliarden Besucher angezogen. Die meisten westlichen Staaten waren im Laufe ihrer Geschichte darin involviert. Dieses Phänomen hat die Rassentheorien begleitet und die Kolonialisierung, ja letztlich sogar zur Identitätsbildung beigetragen, sowohl hier im Westen wie auch in der südlichen Hemisphäre.
Erziehung gegen den Rassismua
Die Kuratoren verstehen diese Ausstellung im Musée du Quai Branly, hinter der zehn Jahre internationale Forschungsarbeit stecken, als Beitrag zur Entkolonialisierung der Vorstellungswelten, als Versuch zu dekonstruieren, was sich über Generationen hinweg in unseren Köpfen festgesetzt hat. Lilian Thuram, der in Guadeloupe geborene ehemalige französische Fussballweltmeister und Rekordinternationale, ist Co- Kurator der Ausstellung und hat zwei Jahre lang an ihrer Konzeption mitgearbeitet.
Er, der jüngst die Stiftung „Erziehung gegen den Rassismus“ gegründet hat, verweist auf die Aktualität dieser historischen Ausstellung. "Wenn ich mit meiner Stiftung heute in Schulklassen gehe, sagen mir die Kinder immer noch, es gäbe verschiedene Rassen – die weisse, die schwarze, die rote. Sie begründen ihren Glauben an verschiedene Rassen mit der Hautfarbe, wie die Wissenschaftler des 18. und 19. Jahrhunderts. Man soll dank dieser Ausstellung besser verstehen, was wir heute immer noch erleben und: Dass der Rassismus vor allem kultureller Natur ist. Wir zeigen, wie die Rassentheorien der Wissenschaftler in die breite Öffentlichkeit gelangten, nämlich eben durch diese Zurschaustellungen. Man ging damals mit der Familie am Sonntag zum Picknick in die Parks und Tiergärten, um sich dort Menschen anzuschauen, die eingeschlossen waren und als Wilde präsentiert wurden und kam dann Abends nach Hause und erzählte natürlich, man habe heute Wilde gesehen."
Unsere Neuen Landsleute
„Wilde Weiber aus Dahomey“ steht etwa auf einem grellen, reisserischen Palakt, das 1893 zu „einer Nacht in Dahomey“ ins Berliner Panoptikum lockte. Ein anderes Plakat wirbt für eine Show mit „ Lippennegerinnen aus Afrika“ bei Hagenbeck in Hamburg. Zu solchen Freizeitvergnügen kamen an manchen Wochenenden bis zu 80'000 Besucher. Eine deutschsprachige Zeitung zeigte in jenen Jahren auf ihrer Titelseite einen Bewohner der Pazifikinsel Samoa, die 1899 deutsches Schutzgebiet geworden war, unter dem verächtlichen Titel: „Unsere Neuen Landsleute“.
Im ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhundert häuften sich die Kolonialausstellungen, wo ein Millionenpublikum die Wilden aus fernen Gefilden bestaunte, ebenso auf den grossen Weltausstellungen jener Zeit, ob Paris, London, Saint-Louis oder Osaka. In der französischen Hauptstadt organisierte man noch 1931 voller Stolz eine grosse Kolonialausstellung. Der Urgrossvater von Lilian Thurams Mitspieler in der französischen Fussballweltmeistermannschaft von 1998, Christian Karambeu, der aus Neukaledonien stammt, war damals den Besuchern als menschenfressender Kanake präsentiert worden. Kein Wunder, dass Christian Karambeu bei seinen Einsätzen mit der französischen Fussballnationalmannschaft nie die Marseillaise gesungen hat.
Zurschaustellung des Anderen
In den 30er und 40er Jahren ging das Interesse an diesen öffentlichen Zurschaustellungen dann aber relativ rasch zurück. Der Wilde wurde zum Eingeborenen - das Ende der Kolonialherrschaft der europäischen Staaten war nicht mehr fern.
Lilian Thuram möchte diese Ausstellung als Schritt dazu sehen, mit Klischees und Vorurteilen gegenüber dem „Anderen“, dem „Fremden“ aufzuräumen. Deswegen, so sagt er, habe man am Ende auch einem zeitgenössischen Videokünstler das Wort erteilt, der mit einer Installation zum Nachdenken anregt über die Diskriminierung von kleinen Menschen, Andersgläubigen oder Homosexuellen.
Die Zurschaustellung des Anderen, des angeblich Minderwertigen und Unterentwickelten war, in Zeiten ohne Photographie und Massenmedien, das probate Propagandamittel, um die Rassentheorien, die Sklaverei, die Kolonialisierung anderer Kontinente und den Glauben an die Überlegenheit des Westens zu legitimieren. Dies zeigt die Ausstellung sehr eindringlich, die sich ausserdem zum Ziel gesetzt hat, einige der damals zur Schau gestellten Menschen aus der Anonymität herauszuholen, ihnen eine Identität zu verleihen, ihre Geschichte zu erzählen und ihnen somit zumindest einen Teil ihrer Würde wiederzugeben. Ihrem Untertitel, "Die Erfindung des Wilden", wird sie in vollem Ausmass gerecht.