Der Markt regelt alles. Diese ökonomische Faustregel – das war einmal. Covid-19 ist ein Augenöffner. Tatsächlich sind die Märkte seit Längerem nicht mehr im Gleichgewicht.
Das handfeste Beispiel
Adam Smith, der schottische Ökonom «erfand» im 18. Jahrhundert die These, wonach die unsichtbare Hand, die über das Marktgeschehen den gesellschaftlichen Reichtum erhöhe, «den Wohlstand der Nationen» vorantreibe. Seither wird die Marktwirtschaft in der ökonomischen Theorie als ein sich selbst regulierendes und selbstoptimierendes System aufgefasst. Daher wird die Marktwirtschaft auch per se als freie Marktwirtschaft begriffen. Allerdings weichen die realen Märkte teils erheblich von dieser idealisierten Modellvorstellung ab.
Ein handfestes Beispiel zur These, dass der Markt eben nicht alles regelt und sich Angebot und Nachfrage oft im Ungleichgewicht befinden: Hier die Pflegekräfte in den Spitälern, oft buchstäblich bis zur Erschöpfung arbeitend, ungenügend bezahlt, aber hochgeschätzt, speziell in Corona-Zeiten. Dort die Top-Manager in den Banken, auch sie viel arbeitend, sehr hoch bezahlt (alle Bezüge eingerechnet), was unterschiedlich geschätzt wird. Das Verhältnis des Verdienstes steht ungefähr bei 1:10.
Weiter – so wie bisher?
Wenn also bisher in der Wirtschaft und ihren Wissenschaften der Glaube an die unsichtbare Hand des Marktes dominierte, wird diese These mit dem Zusammenkrachen des Erdölpreises auch für die «Weiter-so-Traditionalisten» sichtbar, resp. schwer erschüttert. Die Dominanz der fossilen Industrie geht ihrem Ende zu. Sie zerstört unsere Lebensgrundlage. Weltweit sind die nachhaltigen Ersatzprodukte und -techniken in raschem Wachstum begriffen. Würde man endliche die Milliarden-Subventionen für fossile Energie streichen, wäre diese schon heute viel zu teuer.
Die deutsche Ökonomin Claudia Kemfert fordert nicht nur den sofortigen Abschied von der riskanten Atomenergie, sondern auch ein schnelles Ende von Fracking und jeglicher Öl- und Gasförderung und einen konsequenten Kohleausstieg. Sie sagt: «Das heutige Wirtschaftssystem gilt es so umzugestalten, dass wir immun werden gegen die Viren der Gier und der Verschwendung und die durch sie verursachten Krankheiten. Das Problem ist dabei das Primat der fossilen Wirtschaft, welche sich von jeglichen Idealen des Humanismus entfernt hat. Auf Kosten sozial Schwächerer, der Umwelt und des Klimas stellt es den übermässigen Gewinn von heute zukünftigen Generationen in Rechnung.»
Ein nachhaltiges Wirtschaftsmodell
Eine gewichtige Stimme im Chor der Wirtschaftskritiker ist der New Yorker Professor Jeffrey Sachs. Er antwortet auf die Frage: Welche Zukunft sollten wir uns wünschen?
Neue Kennwörter wie Wohlstand, Fortschritt, Wandel anstelle von Bruttoinlandprodukt (BIP), Wachstum und Expansion. «Wir benötigen einen Strukturwandel und neue Technologien, keine Stagnation und kein Postwachstum. Dazu gehört, neben staatlichem und privatem Besitz, ein dritter Sektor, an erster Stelle die engagierten Bürger.» Dieser, für viele Menschen überraschende, Befund ist zentral. In unseren Demokratien – und vor allem in der Schweiz – hängt mehr vom Volk ab als oberflächlich vermutet. Abstimmende und wählende Menschen bestimmen letztlich die politischen Schwerpunkte und das Verhalten der Wirtschaft. Engagierte Bürger und Bürgerinnen interessieren sich dafür und engagieren sich im Idealfall aktiv bei der Zukunftsdiskussion.
Ein besseres Mass für Wachstum
Eine pointierte Meinung zur routinemässig geäusserten Wachstumskritik am Kapitalismus kommt von der Ökonomin Mariana Mazzucato am University College London. «Das Problem ist nicht die Wachstumsrate, sondern was das bessere Mass für Wachstum, die bessere Richtung für Mensch und Planet ist. Die richtige Frage ist: Was brauchen wir, um genau die Wirtschaft und damit auch genau jenes Wachstum zu bekommen, das wir wollen? Das ist aber etwas ganz anderes, als das Wachstum abzuschaffen. Solche Forderungen kommen von Leuten, die sich nicht um Jobs und Ungleichheit kümmern.»
Zum Thema Ungleichheit innerhalb des Wirtschaftssystems meint sie: «Wenn die Pflegekräfte unterbezahlt sind, dann deshalb, weil wir ihre Tätigkeit nicht richtig wertgeschätzt haben. Anders verhielten wir es etwa mit Finanzdienstleistern. Der Grossteil ist nicht dazu da, um die Wirtschaft voranzubringen, sondern um dem Finanzsektor selbst zu nützen. Das sollte nicht Teil unserer Wachstumsbemessung [BIP] sein Wir brauchen also andere Ziele und dafür andere Arten der Produktion, des Konsums, der Verteilung.»
Themen für das WEF 2021
In der dritten Januarwoche 2020 begann einmal mehr eine Tagung des WEF und die Steuerleute des Kapitalismus beteuerten – wie immer – wie erfolgreich man sei. Allerdings mehrten sich die Hinweise, dass sich das «System» in chronischem Zerfall befinde. Schon wenige Wochen später hatte das Wachstum Reissaus genommen – der Shutdown! Und so erwachten wir überrascht in der Welt des Postwachstums.
«Möglicherweise ist Postwachstum bereits das neue Normal – insbesondere für Europa. Die Krise bietet uns die einmalige Gelegenheit, die alten Wirtschaftsmodelle zu überarbeiten», meint Tim Jackson, britischer Professor für nachhaltige Entwicklung an der Universität von Surrey. Und etwas maliziös schiebt er nach: «Dank der Corona-Lektionen sind wir besser denn ja dafür aufgestellt, den Übergang zu einem resilienten, nachhaltigen Wirtschaftswachstum zu erkennen und zu realisieren. Unser Lohn wäre gewaltig. Vielleicht könnte man am WEF 2021 darüber nachdenken.» (Die hier zitierten Statements entstammen der ZEIT.)
Vieles ist in diesem Jahr 2020 tatsächlich aus dem Gleichgewicht geraten. Die ökonomische Lehrmeinung selbst wird konsequenterweise neu formuliert werden müssen. Dies wird mit jedem Tag sichtbarer und, wer über den Daumen hinausdenken mag, realisiert, dass die Transformation der Wirtschaft mit jener der Gesellschaft parallel verlaufen wird. Ein neues Denken wird Einzug halten müssen, das alte Treppengeländer ist durchgerostet. Das Hauptziel der alten Wirtschaft, Profit zu erzielen, wird sich neuen Kriterien zu stellen haben. Zukünftiger Profit wird sich nicht mehr ausschliesslich in Franken, Dollar, Euro bemessen, sondern in der Vorbildfunktion nachhaltigen Wirtschaftens in Einklang mit der Natur – unserer Welt.