Die Hamas ist de facto besiegt. Der von ihr gewollte und provozierte Krieg hat Tausenden das Leben gekostet und Abertausenden das Zuhause zerstört. Der letzte Akt muss nicht kriegerisch sein, er kann gelingen, wenn die Hamas so isoliert und jeder Legitimität beraubt wird, dass sie «austrocknet», zusammenbricht und/oder aufgeben muss.
Dazu bedarf es der Staatskunst: Denn dies erfordert nicht nur eine diskursive Neutralisierung der Hamas und ihres ideologischen Umfelds, sondern vor allem eine Diplomatie mit der PLO, um deren verlorene Legitimität wieder aufzubauen. Zwar ist es Benjamin Netanjahus erklärtes Ziel, einen palästinensischen Staat zu verhindern. «Wer die Gründung eines palästinensischen Staates vereiteln will, muss die Hamas unterstützen und ihr Geld schicken», sagte Netanjahu noch im März 2019 vor Knessetabgeordneten seiner Likud-Partei. Das sei Teil der Strategie des Likud.
Doch Netanjahu wird immer mehr zur Belastung. Israel wird eine PLO brauchen, um den Palästinensern Rudimente von Staatlichkeit zu garantieren. Israel wird eine PLO brauchen, um in Gaza eine Ordnung zu schaffen, die dem Land Sicherheit garantiert und der palästinensischen Bevölkerung endlich wirkliche Freiheit und Selbstbestimmung ermöglicht. Noch versucht die PLO, die Hamas «in den Griff zu bekommen», doch wächst die Einsicht, dass dies unmöglich ist und die Hamas letztlich verschwinden muss.
Es ist nicht auszuschliessen, dass die Menschen in Rafah, wie einige PLO-Funktionäre vermuten, das Heft selbst in die Hand nehmen und Yahya al-Sinwar und seine Entourage, die sie direkt für ihr Elend verantwortlich machen, den Garaus machen. Manches erinnert an das Schicksal des libyschen Diktators Muammar al-Gaddafi, der im Oktober 2011 in der Nähe seines letzten Zufluchtsortes Sirt unter bis heute ungeklärten Umständen von Rebellen getötet wurde.
Eines hat der Gaza-Krieg unmissverständlich gezeigt: Nicht nur die palästinensische Bevölkerung braucht ihren Staat Palästina, sondern vor allem auch Israel. Nur wenn die Machtstrukturen in Palästina staatlich und damit verlässlich sind, kann Israel seine Sicherheit gewährleistet sehen, und nur eine Staatlichkeit Palästinas eröffnet die Möglichkeit, die Ordnung der Beziehungen neu zu bestimmen, als bilaterale Vertragsgemeinschaft, als Konföderation oder wie auch immer. Nur Staatlichkeit ermöglicht verlässliche Nachbarschaft und Gegenseitigkeit zum Nutzen und Wohle beider Seiten. Das setzt voraus, dass die Staatlichkeit Palästinas auch gelingt, und das setzt weitgehende innergesellschaftliche Bewegungsfreiheit, zivile Regierungsführung, freien politischen Diskurs, nachbarschaftlichen Austausch und vieles mehr voraus. Nur als Rechtsstaat garantiert Palästina seiner Bevölkerung und Israel dauerhaft Schutz und Sicherheit. Er verhindert, dass Palästina zu einem zweiten Libanon wird, er verhindert, dass sich neue ultranationalistische Bündnisse wie Hizbullah oder Hamas zu Parastaaten entwickeln.
Ein Rechtsstaat Palästina – Grundlage für Frieden in der Region
Mit dem Rechtsstaat Palästina können Verträge geschlossen werden, die für fast fünf Millionen Menschen bindend sind. Ein Staat Palästina gibt den Menschen nicht nur international anerkannte Bürgerrechte, sondern sichert ihnen auch ihre politische Würde. Mit dem Rechtsstaat Palästina kann Israel eine Vertragspartnerschaft eingehen, die international abgesichert ist und die Grundlage für Frieden in der Region bildet. Die Tragödie des Gaza-Krieges mit seinen israelischen und palästinensischen Opfern mahnt, diese Chance zu ergreifen. Wenn sie jetzt verpasst wird, besteht die Gefahr, dass sich diese Tragödie in nicht allzu ferner Zukunft wiederholt.
Aber die Herstellung von Staatlichkeit braucht Zeit. Staatlichkeit kann nicht als Folge eines Willensakts politischer Organisationen verstanden werden, sondern muss durch das Recht erfolgen. Daher sollte der neue Staat Palästina nicht durch politische Organisationen konstituiert werden, sondern durch einen Verfassungsprozess, der von den politisch Verantwortlichen des Landes initiiert und gesteuert wird. In der Konsequenz würde dies bedeuten, dass Palästina die Bürde des PLO-Staates ablegen müsste und die PLO sich zu einer Art Volkspartei innerhalb dieses Staates umdefinieren müsste.
Der Rechtsstaat steht vor grossen Herausforderungen: Zunächst müsste er die Gewalt- und Kriegserfahrungen in Gaza berücksichtigen. Der Krieg hat inzwischen vermutlich mehr Todesopfer gefordert als der 14-monatige israelisch-arabische Krieg 1948/1949. Gut 60% aller Wohnhäuser, öffentlichen Gebäude und Industrieanlagen sind zerstört. Der Wiederaufbau dürfte nach sehr konservativen Schätzungen mindestens 20 Milliarden US-Dollar kosten.
Den Erben des Ultranationalismus das Wasser abgraben
Durch diese Gewalterfahrungen, aber auch durch die Diktatur des Hamas-Regimes seit 2007 hat Gaza eine eigene politische und gesellschaftliche Entwicklung genommen. Schon der Aufstieg der Hamas war durch den Versuch der PLO-Milieus begründet, nach ihrer Rückkehr aus dem tunesischen Exil 1993/95 auch in Gaza die Schaltstellen der politischen und gesellschaftlichen Macht zu besetzen. Die Hamas hatte sich damals in Gaza als «einheimische» Gegenmacht zu den «landesfremden» Rückkehrern feiern lassen. Während die PLO über zwanzig Jahre lang «landesabwesend» gewesen sei, habe die Hamas «allein» den «Widerstand» gegen Israel geleistet.
In Gaza, das durch die starke Präsenz von Flüchtlingsfamilien geprägt ist, dominiert eine stark wertkonservative Haltung die gesellschaftliche Vorstellungswelt der Menschen. Befragungen haben deutlich gemacht, dass diese konservative Haltung insbesondere die soziale Kultur in den teilweise 75 Jahre alten Flüchtlingslagern geprägt hat. Die sozialen Welten in Gaza waren zudem von der Konkurrenz zwischen den Clans (Hamula) und der Hamas geprägt. Die Clans waren Verbündete der Fatah, die Hamas stützte sich vor allem auf die Bewohner der acht Flüchtlingslager, die etwa zwei Drittel der Gesamtbevölkerung Gazas ausmachen. Anders als im Westjordanland spielen in Gaza die grossen Honoratiorenfamilien eine eher untergeordnete Rolle. So hat sich in Gaza ein sehr eigenständiges soziales Gefüge herausgebildet. Das kleine, dicht besiedelte Gebiet des Gazastreifens sollte daher mit einem Autonomiestatut ausgestattet werden, das diese Sonderstellung zum Ausdruck bringt, um interne Konflikte zu vermeiden.
Die Privilegierung des Rechts als Instrument zur Konsolidierung der palästinensischen Gesellschaft und zur Gestaltung einer tragfähigen und nachhaltigen sozialen Integration impliziert, dass Staatsbildung ein Prozess ist, der durch eine kluge, international und regional abgesicherte Politik ermöglicht werden sollte. Dabei wird das soziale Milieu, das den religiösen Ultranationalismus von Hamas und Islamischem Dschihad getragen hat, nicht von heute auf morgen verschwinden. Vielmehr ist damit zu rechnen, dass es – ähnlich wie in Nordirland, wo die IRA 1969 durch eine «Provisional IRA» neu gegründet wurde und 1974 mit der INLA (Irish National Liberation Army) eine weitere Neugründung hinzukam – immer wieder zu Wiedergeburten von Bündnissen à la Hamas kommen wird. Sollte es jedoch gelingen, Palästina mit einer funktionierenden rechtsstaatlichen Ordnung auszustatten, stünden die Chancen gut, diesen zu erwartenden Erben des Ultranationalismus das Wasser abzugraben.
Mit der Zweistaatenlösung könnte die Hamas delegitimiert werden
Allerdings ist absehbar, dass die Wiederbelebung der Zweistaatenlösung auf den erbitterten Widerstand der rechtsnationalistischen Regierung in Israel stossen wird. Ihr Primat ist die militärische Sicherheit. Eine politische Lösung, das haben die letzten Monate gezeigt, verbunden mit einer konstruktiven Palästina-Politik, spielt dabei keine Rolle. Im Gegenteil. In der politischen Öffentlichkeit dominiert die Vorstellung, Israel sei der legitime Erbe des gesamten britischen Mandatsgebiets westlich des Jordans und müsse sich durch eine «Eiserne Mauer» vor «den Arabern» schützen, wie es der zionistische Revisionist Wladimir Zeev Jabotinsky 1923 in seinem Essay «Die Eiserne Mauer (Wir und die Araber)» formulierte. Vergessen wird dabei, dass Jabotinsky schon vor 100 Jahren immer auch die politische und nationale Autonomie der arabischen Bevölkerung im damaligen Palästina gefordert hatte.
In der politischen Kultur Palästinas spielt Legitimität eine herausragende Rolle. Um sie wird intern gerungen, sie ist der prestigeträchtige Pfeiler der Macht. Delegitimierung ist daher die stärkste Waffe, um einen Gegner endgültig auszuschalten. Mit der Vision einer Zweistaatenlösung, die dem religiös-nationalistischen Anspruch der Hamas völlig entgegengesetzt ist, kann es schnell gelingen, die Hamas endgültig zu delegitimieren und damit politisch zu ächten. Das wäre dann der letzte Akt in der Tragödie von Gaza, in der so viele unschuldig schuldig geworden sind.