Im Vergleich zur hier lebenden ausländischen Bevölkerung ist die Zahl der Asylsuchenden klein, doch eine Minderheit von ihnen macht Schlagzeilen wegen arrogantem und kriminellem Verhalten; darunter leiden auch die andern Asylsuchenden. Das Klima ist emotionell aufgeladen, aber gleichwohl sollten die Politiker, welche die Gesetze gestalten und beraten, einen kühlen Kopf bewahren.
Die staatspolitische Kommission des Ständerats hat u.a. die Kantone angehört, und den nicht durchdachten und widersprüchlichen Gesetzesartikel des Nationalrats zurechtgebogen. In diesem Punkt wurde die Kleine Kammer ihrem Ruf als „chambre de réflexion“ gerecht; sie hat mit ihrem Entscheid eine grosse Verwirrung und Ungerechtigkeit verhindert. Vor allem ihre Kommission hat für die Revision des Asylgesetzes eine grosse und weitgehend sorgfältige Arbeit geleistet. Aber auch die Kleine Kammer hat zeitweise den Kopf verloren. Dazu ein Beispiel.
Starke Argumente gegen die Dringlichkeit
Der Flüchtlingsbegriff – ein Kernpunkt im Asylrecht – wurde präzisiert. Danach sollen Wehrdienstverweigerer und Deserteure nicht mehr Asyl erhalten. Der Nationalrat hat diese Einschränkung verlangt, weil die Zahl der Asylgesuche von jungen Männern aus Eritrea stark gestiegen ist. Diese Änderung hat jedoch praktisch keine Wirkung, denn Menschen, z.B. Deserteure, denen in ihrem Land eine unmenschliche Strafe wie z.B. Folter droht, erhalten gleichwohl Asyl: Sie dürfen aufgrund der Flüchtlingskonvention nicht in ihr Land zurückgeschickt werden. Das Parlament begnügte sich nicht mit dieser Änderung: es hat die praktisch wirkungslose Bestimmung dringlich erklärt, d.h. der abgeänderte Flüchtlingsbegriff soll sofort nach Annahme durch National- und Ständerat in Kraft treten. Das bedeutet, dass die Volksrechte „vertagt“ werden, denn ein Referendum kann erst nach Ablauf der Dringlichkeitsfrist von einigen Jahren ergriffen werden..
Gegen diesen Vorschlag wehrten sich im Ständerat nicht nur Sozialdemokraten und Grüne. Der freisinnige Neuenburger Raphaël Comte erinnerte daran, dass gemäss Verfassung nur ausnahmsweise, sofern eine Dringlichkeit bestehe, ein Gesetz dringlich erklärt werden könne. Dass die Mehrheit möglichst keine Differenzen zum Nationalrat schaffen wolle, sei verständlich, sagte Comte, doch wenn der Nationalrat mit seinem Entscheid die Bundesverfassung missachtet habe, dann müsse der Ständerat eingreifen. Der Neuenburger zitierte die entscheidenden Sätze eines Gutachtens aus dem Justizdepartement, wonach die Dringlichkeit in diesem Fall eindeutig nicht gegeben ist. Comte findet es unhaltbar, wenn aus politischen Erwägungen – einige Parlamentarier betonten, man müsse ein Zeichen setzen – die Verfassung verletzt werde. Das sei gefährlich, denn der Rechtsstaat sei ein hohes Gut, er dürfe nicht missachtet werden, um Emotionen nachzugeben.
Überzeugende Bundesrätin wird nicht gehört
Bundesrätin Simonette Sommaruga argumentierte mit gleicher Klarheit und Sachlichkeit. Die vom Parlament gewollte neue Fassung des Flüchtlingsbegriffs ändere an der heutigen Praxis nichts, und gerade deshalb sei die Dringlichkeit gemäss Bundesverfassung nicht gegeben. Als hätte die Mehrheit der Ständeräte Wachs in den Ohren, sie hörten die Argumente nicht, sie hielten an ihren vorgefassten Meinungen fest und bejahten die Dringlichkeit. Die Parlamentarier wiegen sich in der Illusion, auf diese Weise dem Unmut im Volk Rechnung getragen zu haben, sie wollten zeigen, dass sie die Bevölkerung ernst nehmen. Doch das Gegenteil ist der Fall: Dringlichkeitsentscheide wecken Erwartungen im Volk, dass sich die Lage bald verbessere. Es wird sich jedoch gar nichts ändern. Mit andern Worten: Mit dem Vorwand, das Volk ernst zu nehmen, führt man es mit einer solchen „Zeichen“-Politik hinters Licht. So verspielen National- und Ständerat ihre Glaubwürdigkeit. Trotz der emotionsgeladenen Atmosphäre gibt es in der französischen Schweiz Freisinnige und Christdemokraten, die in der Asyldiskussion einen kühlen Kopf bewahren und kristallklar argumentieren, wie das im Ständerat der Fall war. Ihre Kollegen aus der deutschen Schweiz hingegen verlieren den Kopf, wenn es ums Asylgesetz geht. Glauben sie wirklich, dass es ihnen etwas bringt, wenn sie ihrem Angstgegner nacheifern, der kompromisslosen SVP, die nach jedem Entgegenkommen ihre Forderungen noch höher schraubt?