Der mehrfach preisgekrönte algerische Schriftsteller Boualem Sansal war seit dem 16. November wie vom Erdboden verschwunden. Zuvor hatte er sich kurz in Frankreich aufgehalten. Erst am Wochenende bestätigte die algerische Nachrichtenagentur APS, was zu erwarten war: Der 75-jährige Schriftsteller war bei der Ankunft in seinem Land, auf dem Flughafen in Algier, verhaftet worden.
Die bislang inoffizielle Begründung: Sansal hatte in einem Interview mit einem rechtsextremen französischen Medium geäussert, dass der ganze westliche Teil Algeriens zu Beginn der französischen Kolonialisierung 1830 noch zum Königreich Marokko gehört habe und nicht zu dem Gebiet, das später einmal Algerien werden sollte.
Die Machthabenden in Algerien wollen in dieser Äusserung Sansals einen Angriff auf die Integrität, ja die Existenz Algeriens sehen und tun so, als habe der Autor mit seiner Aussage so etwas wie Hochverrat begangen.
Sansals Verhaftung erfolgt zudem zu einem Zeitpunkt, da Paris sich mit Algier wegen der Westsahara-Frage zutiefst zerstritten hat. Ende Juli hatte Frankreich den jahrelang mit Marokko ausgetragenen Streit über die Zugehörigkeit der Westsahara beendet, indem es den von Marokko erhobenen Anspruch auf das völkerrechtlich umstrittene Territorium anerkannte. Ein Schritt, der während eines pompösen, dreitägigen Staatsbesuch Macrons in Marokko besiegelt wurde.
Währenddessen tritt aber die linksgerichtete, von Algerien unterstützte «Frente Polisario», weiter für die Unabhängigkeit des Wüstengebiets am Atlantik ein.
Angesichts dieses angespannten Klimas wird es im algerischen Militärregime niemanden ernstlich aus der Ruhe bringen, wenn Frankreichs Präsident Emmanuel Macron sich jetzt über Sansals Verhaftung offiziell «beunruhigt» gezeigt hat.
Ebenso wenig, dass inzwischen unter anderen auch mehrere Nobelpreisträger öffentlich für Sansal Partei ergriffen und seine Freilassung gefordert haben, so etwa Annie Ernaux, Jean-Marie Gustave Le Clézio, Orhan Pamuk oder Wole Soyinka – ausserdem der Autor Roberto Saviano oder der Philosoph Peter Sloterdijk.
Als hätte Boualem Sansal geahnt, was ihm blühen könnte, hatte er – nach jahrelangem Zögern – erst vor wenigen Monaten doch auch die französische Staatsbürgerschaft angenommen. So dass das algerische Regime mit Boualem Sansal jetzt nicht nur einen seit langem unbequemen, algerischen Kritiker hinter Gitter gesetzt hat, sondern auch einen Franzosen.
Unter den zahlreichen Preisen mit denen Boualem Sansal im Lauf der letzten zwei Jahrzehnte ausgezeichnet wurde, war 2011 auch der Friedenspreis des Deutschen Buchhandels, der ihm feierlich in der Frankfurter Paulskirche verliehen wurde. Dies war ein knappes Jahr nach Erscheinen der deutschen Fassung von Sansals Roman «Das Dorf des Deutschen» und nachdem unser Autor, Hans Woller, den folgenden Text verfasst hatte. Dieser hätte als Vorstellung von Boualem Sansal bei einer Lesung und Diskussion in der Wiener Stadtbibliothek im April 2010 dienen sollen. Eine Lesung, die wegen des damaligen Vulkanausbruchs in Island und dem Flugchaos über Europa aber nie zustande kam.
Ein Phänomen (Text von 2010)
Boualem Sansal ist ein Phänomen, wie es unter Schriftstellern einzigartig sein dürfte. Aus dem einfachen Grund, dass er bis zum Alter von 50 Jahren kein einziges Buch veröffentlicht hatte.
Der Mann, der 13 Jahre alt war, als Algerien unabhängig wurde, war jahrzehntelang als Doktor der Wirtschaftswissenschaften und Ingenieur zunächst in einem Betrieb, dann in der algerischen Verwaltung tätig, zuletzt im Industrieministerium. Nichts hatte ihn zum Schriftsteller prädestiniert, es sei denn, dass er einen Schriftsteller zum Freund hatte, Rachid Mimouni, der ihn zum Schreiben ermutigt hatte.
Und so schlug vor jetzt 11 Jahren (vor 25 Jahre heute) ein Buch unter dem Namen Boualem Sansal in der Landschaft der frankophonen Literatur wie ein Komet ein: «Der Schwur der Barbaren».
Es war das Manuskript eines damals völlig Unbekannten, das vom namhaftesten der französischen Verlagshäuser, von Gallimard, auf Anhieb akzeptiert worden war und dem Autor sowie dem Verlag umgehend auch mehrere Preise einbrachte. «Der Schwur der Barbaren», mit dessen Niederschrift Boualem Sansal 1996 begonnen hatte, ist eine Art Krimi, in dem er die so genannten «Schwarzen Jahre Algeriens», die 90er Jahre des Terrorismus, des Bürgerkriegs, der schwer durchschaubaren Gemetzel zwischen den Islamisten des FIS, der algerischen Heilsfront, und dem algerischen Militär eingefangen hat und darüber hinaus die gesamte, oft widersprüchliche algerische Nachkriegsgeschichte aufleben lässt – das Ganze mit einer Heftigkeit und einer Sprachgewalt, die die Literaturkritik beim Erscheinen des Romans 1999 dazu brachte, Sansals Sprache mit der eines Celine oder eines Rabelais zu vergleichen. Es ist eine Sprache, die von Wut geprägt ist und von der Verzweiflung über den Zustand seines Landes Algerien, eine Sprache, die gleichzeitig aber auch gespickt ist mit Humor und Zynismus.
Gegen die Geschichtsklitterung
Es scheint nicht übertrieben, zu sagen: Boualem Sansal führt einen Kampf mit der Feder – in erster Linie gegen die Lüge, gegen die Geschichtsklitterung in seinem Land, gegen die kritiklose Verherrlichung der Einheitspartei FLN, gegen das Verschweigen von Bruderkämpfen und begangenen Grausamkeiten während des algerischen Befreiungskriegs, gegen die weit verbreitete Mähr, dass am Elend seines Landes allein die ehemalige Kolonialmacht Schuld sei, gegen die Islamisierung Algeriens und die offiziell verordnete Arabisierung. Oder gegen den Unsinn, das literarische Arabisch vor einigen Jahren zur offiziellen Landessprache Algeriens erhoben zu haben, wo es doch von kaum jemandem im Land gesprochen wird.
Dem ersten Roman «Dem Schwur der Barbaren» sind vier weitere Romane gefolgt. Zunächst «Das verrücke Kind aus dem hohlen Baum». Da wird erzählt, wie ein Franzose, der in Algerien seine leibliche Mutter sucht, ins Gefängnis geworfen und zum Tode verurteilt wird und sich in seiner Zelle mit einem anderen, zum Tode verurteilten, über Algerien unterhält.
2005 erschien «Harraga», ein Roman, in dem ein Abwesender im Zentrum steht, eben einer der vielen jungen Algerier, die man Harraga nennt, die Weggegangen, von denen viele verloren gegangen sind auf dem Weg übers Meer in gelobte Länder. «Sie sind gerade mal 20 und haben keinerlei Hoffnung mehr», so Sansal.
Der Autor hat neben seinen mittlerweile fünf Romanen auch zwei polemische Streitschriften veröffentlicht. Eine davon erschien 2006, liegt auch auf Deutsch vor und ist ein politisch hochexplosives Pamphlet: «Postlagernd Algier», so sein Titel. «Ein zorniger und hoffnungsvoller Brief an meine lieben Landsleute» lautet der Untertitel. Das Traktat ist ein leidenschaftlicher Appell an die Algerier, der Amnesie, der Korruption und der Schizophrenie im Land ein Ende zu bereiten – ein Plädoyer voller Bissigkeit und Schärfe für Meinungsfreiheit und echte demokratische Diskussion und Konfrontation im Land. Das Buch beginnt mit folgenden Sätzen:
«Wir haben uns so viel zu sagen über unser Land mit seiner verfälschten Geschichte, seiner kaputten, verwüsteten Gegenwart, seiner verpfändeten Zukunft. Haben viel zu sagen über uns selbst, die wir gefangen sind im Netz der Diktatur, unter dem Joch der Ideologie und der Religion, bar aller Illusionen bis hin zum Angeekeltsein. Und wir haben uns viel zu sagen über unsere Kinder, die ersten, die von einem derartigen Regime bedroht werden, Kinder, die weggehen, wie man ein sinkendes Schiff verlässt.»
Unnötig zu sagen, dass Boualem Sansals «liebe Landsleute» seinen «postlagernden Brief» so gut wie gar nicht lesen konnten, ebenso wenig wie all seine anderen Bücher. Sie sind in Algerien schlicht verboten und werden bestenfalls unter dem Mantel weitergegeben.
Der Holocaust – bis heute kein Thema
So auch sein Roman mit dem überraschenden Titel: «Das Dorf des Deutschen – oder das Tagebuch der Brüder Schiller», ein Roman, dessen Inhalt aus Sicht des offiziellen Algeriens erneut ein Tabu verletzte.
Zum einen, weil der Roman den Holocaust thematisiert, etwas, das im Algerien der letzten Jahrzehnte, sei es in Schulen, an Universitäten, in Veröffentlichungen, in der schreibenden Presse oder im Fernsehen – kurzum in der Öffentlichkeit schlichthin nie ein Thema war und bis heute keines ist, totgeschwiegen wird.
Und zum anderen, weil eine der Hauptfiguren in diesem Roman, der Deutsche in diesem algerischen Dorf, der eine Algerierin geheiratet hat, zum Islam konvertiert ist und Dorfvorsteher war – und dass dieser Hans Schiller ein ehemaliger Kriegsverbrecher ist, ein SS-Scherge, der in den Konzentrationslagern gewütet hatte und über Ägypten während des algerischen Befreiungskriegs 1955 nach Algerien gekommen war und als Ausbilder für die Kämpfer der Nationalen Befreiungsfront FLN gearbeitet hatte. Dass sich die heldenhafte algerische Befreiungsfront auch solcher Leute bedient hat, ist für das offizielle Algerien heute immer noch schlicht inakzeptabel.
«Das Dorf des Deutschen» ist die Geschichte der beiden Söhne von Hans Schiller, die, unterschiedlich alt, in Frankreich bei einem Nennonkel der Eltern aufwachsen. Der Ältere hat es geschafft und arbeitet als leitender Angestellter in einem Grossunternehmen. Der Jüngere kommt in einem Pariser Vorort mehr oder weniger auf die schiefe Bahn.
Als die Eltern der beiden in ihrem algerischen Dorf in der Kabylei bei einem Überfall der Islamisten hingemetzelt werden, entdeckt der ältere Sohn die NS-Vergangenheit seines Vaters, verfolgt dessen Spuren bis nach Hamburg, Auschwitz und Kairo, ist erschüttert, gerät aus dem Gleis und begeht letztlich Selbstmord. Sein jüngerer Bruder erfährt erst nach dessen Tod aus dem Tagebuch des Älteren die ganze Geschichte.
Es ist ein Roman, in dem Boualem Sansal zum einen sich erstmals dem Thema der Integration von Nordafrikanern in Frankreichs Vorstädten annimmt, zum anderen wohl als erster algerischer Schriftsteller überhaupt den Holocaust behandelt.
Die Tagebuchaufzeichnungen des älteren der Schillerbrüder über seinen Besuch in Auschwitz sind der beeindruckende Schluss des Buchs.
«Es wäre an ihnen zu gehen, nicht an mir»
Man hat Boualem Sansal als «letzte freie Stimme» Algeriens bezeichnet, als das unbequeme Gewissen seines Landes.
Denn es ist durchaus etwas Besonderes, dass ein algerischer Schriftsteller, der in französischer Sprache schreibt, dessen Bücher in Frankreich verlegt werden und zudem noch Themen beinhalten, die in Algerien weitgehend tabu sind – dass er als solcher weiterhin in Algerien lebt.
Immer wieder hat man ihm angeboten, sich in Frankreich niederzulassen, stets hat er es abgelehnt. Und er hat dem Autor dieser Zeilen, als man sich im Verlagshaus von Gallimard in Paris begegnete, als Begründung die folgenden, im Grunde sehr simplen und doch sehr weisen Sätze gesagt:
«Bleiben ist für mich nicht etwas wirklich Wesentliches, sondern schlicht und einfach etwas ganz Normales. Algerien ist mein Land. Diese Leute, die sich die Macht mit Waffen angeeignet, die Geschichte des Landes verfälscht und das Leben in diesem Land zerstört haben – es wäre an ihnen zu gehen, nicht an mir. Ich tue niemandem Böses.»
Dementsprechend lebt Boualem Sansal weiter in Boumerdes, einst ein Dorf, heute eine Stadt mit 150’000 Einwohnern an der Küste, 50 Kilometer östlich von Algier, wo sich zu Beginn der Unabhängigkeit des Landes 1962 die GPRA, die provisorische Regierung der algerischen Republik niedergelassen hatte.
Boualem Sansal lebt dort, auch wenn er seine Arbeit im Industrieministerium seit mittlerweile sieben Jahren verloren hat. 2003 hat man ihn auf Grund seiner ersten Schriften und eines Interviews, in dem er seinen vorgesetzten Industrieminister einen Islamisten genannt hatte, aus dem Staatsdienst entlassen.
Und seitdem hat sich Boualem Sansal – als wäre er ein Aufmüpfiger der 60er Jahre des vergangenen Jahrhunderts – die Haare wachsen lassen.