Wenn der Kampf gegen die Klimaerwärmung heute die vordringlichste Aufgabe der Menschheit sein soll, dann muss man auch den Ausstieg aus der CO2-freien Atomkraft neu überdenken – zumindest was den Terminplan betrifft. Es gilt, eindeutige Prioritäten zu setzen.
«No more blah blah blah» skandierten am vergangenen Wochenende Tausende von Demonstranten in Glasgow. Sie protestierten damit gegen die von ihnen behauptete oder befürchtete Ergebnislosigkeit der laufenden Monsterkonferenz zur Eindämmung des Klimawandels in der schottischen Hauptstadt. Den Blah-Bla-Slogan hatte zuvor die schwedische Klima-Kämpferin Greta Thunberg in einer Brandrede gegen die angebliche Tatenlosigkeit der in Glasgow versammelten Staatsführer und Polit-Zampanos gegen die drohende Klima-Apokalypse formuliert.
Mit Schlagworten, zu denen man getrost auch den Blah-Blah-Vorwurf zählen darf, lässt sich in der epischen Debatte um die Klimakrise und deren Lösungsmöglichkeiten natürlich leicht Applaus generieren. Tatsache aber bleibt, dass die meisten der vorgeschlagenen Rezepte zur Durchsetzung der global angestrebten Reduktion der CO2-Emissionen auf Null bis 2050 mit schwierigen Zielkonflikten verknüpft sind. Dazu zählt die Herausforderung, das Klimaziel mit dem in aller Welt wachsenden Energiebedarf in Einklang zu bringen.
Gut zehn Prozent der globalen Energieproduktion werden heute mit Atomkraftwerken produziert. Nimmt man die in einer Reihe von Ländern, die zu den stärksten CO2-Emittenten gehören (China, Indien, Russland) geplanten neuen AKWs hinzu, dürfte der nukleare Anteil der Energiegewinnung in Zukunft erheblich zunehmen. In China sind 44 neue Reaktoren vorgesehen, in Russland 21 und in Indien 17. Atomstrom ist, wie man weiss, weitgehend CO2-frei. Dennoch bestehen kaum Zweifel, dass die grosse Mehrheit der Klima-Aktivisten, die in Glasgow gegen die mangelnde Entschlossenheit im Kampf gegen den Kohlestoff-Ausstoss demonstrierten, ebenso vehement gegen den Atomstrom und dessen Ausbau engagiert sind.
Aber der Zielkonflikt zwischen CO2-Null und dem Nein zum Atomstrom macht nicht nur den Klima-Demonstranten von Glasgow zu schaffen. In verschiedenen hauptsächlich westlichen Ländern ist seit der Tsunami-Katastrophe von Fukushima vor zehn Jahren, bei der ein nuklearer Reaktor wegen des zerstörten Kühlsystems explodierte, der Ausbau der Kernenergie praktisch ein Tabu-Thema. In Deutschland ist der Ausstieg von dieser Art der Stromproduktion offiziell beschlossen. Im kommenden Jahr sollen die letzten sechs AKWs vom Netz genommen werden. In der Schweiz ist der Abschied vom eigenen Atomstrom zwar ebenfalls festgeschrieben, doch ohne eindeutige Deadline. Der Ausstieg soll schrittweise erfolgen.
Will man das Dilemma zwischen dem CO2-Ziel und den Risiken der Atom-Energie entschärfen, so sollte man unbedingt die Prioritäten klären. Kann man beide Ziele gleichzeitig verwirklichen? Oder wäre es sinnvoller, den Atomausstieg vorläufig als weniger dringlich einzustufen, um so das Ziel von CO2-Null bis zum Jahre 2050 umso eher zu erreichen? Dass die Klimaerwärmung und dessen weltweit drohende Folgen zumindest in zeitlicher Hinsicht die ungleich näher liegende und berechenbarere Gefahr für die Menschheit darstellt, lässt sich ja im Ernst kaum bestreiten. Ganz abgesehen davon, dass bei der Einschätzung des Klima-Problems inzwischen ein grundsätzlicher Konsens besteht, der von allen Regierungen von China über Brasilien und den USA bis nach Russland anerkannt wird. In Sachen Atomkraft aber ziehen Big Players wie Peking, Moskau oder Delhi überhaupt nicht am gleichen Strang wie das ausstiegsentschlossene Berlin und das ausstiegswillige Bern. Selbst zwischen den beiden EU-Führungsländern Frankreich und Deutschland klafft bei diesem Thema ein breiter Graben.
Dieser liesse sich immerhin teilweise überbrücken, wenn Deutschland sich bereitfinden würde, die Laufzeit der bestehenden AKWs zu verlängern. Das wäre nicht nur ein Beitrag zur Durchsetzung der globalen CO2-Neutralität, denn mit verlängerten AKW-Laufzeiten müssten in Deutschland auch weniger Kohle- und Gas-Kraftwerke betrieben werden. Ausserdem wäre das ein Schritt zu weniger Abhängigkeit von Putins Gaslieferungen.
Völlig weltfremd kann eine Entscheidung zu verlängerten Laufzeiten bestehender Atomkraftwerke auch für dezidiert grüne Aktivisten nicht sein. Vor kurzem hat jedenfalls Martin Neukomm, der grüne Regierungsrat des Kantons Zürich, in einem Interview mit der NZZ bestätigt, auch er rechne mit einer solchen Entscheidung. Ob die sich formierende rot-grün-gelbe Ampelkoalition in Berlin sich bei den laufenden Regierungsverhandlungen auf einen Schritt in diese Richtung durchringen wird, erscheint hingegen höchst fraglich.