Der Platz neben den Markthallen in "La Petite Haiastan", wie man Alfortville auch nennt, heisst Achtarak. Drei Palmen sind im Zentrum des Kreisverkehrs gepflanzt - wie in zahlreichen winzigen Vorgärten der kleinen, dicht gedrängten Einfamilienhäuser aus den Vor - und Nachkriegsjahren.
Eigenwillige Mailadresse
Um die Ecke liegt die "Rue Eriwan" und die « Rue Groupe Manouchian », benannt nach dem Chef Widerstandsgruppe «Rotes Plakat » - Ausländer, die für die Freiheit Frankreichs gekämpft hatten, unter der Führung des von den Nazis hingerichteten Armeniers, Massik Manouchian.
Hundert Meter weiter, zwischen einem schmucklosen Supermarkt und einer Schule, steht ein Gedenkstein für die 1,5 Millionen Opfer des Völkermords an den Armeniern - Ende der 70-er Jahre aufgestellt und seitdem mehrmals geschändet. 500 Meter weiter lebt ein Toningenieur, ein alter Bekannter. Man erinnert sich an seine eigenwillige Mailadresse. " armenpower ät.....". Seine Kinder über 20 sind heute die vierte Generation der armenischen Familie.
Sumpfgebiete
Die armenischstämmige Bevölkerung von Alfortville lebt überwiegend im Südteil der lang gezogenen Gemeinde, zwischen dem Fluss, der Seine, im Westen und der Bahnlinie Richtung Lyon, im Osten. Um hierher zu gelangen, muss man unweigerlich eine Brücke überqueren. 1923 hatte die damalige kommunistische Stadtverwaltung den ersten armenischen Ankömmlingen die sumpfigen Gebiete im ehemaligen Überschwemmungsgebiet der Seine überlassen.
Es waren kaum Familien unter den Neuankömmlingen, sondern Alleinstehende, überwiegend Waisen, die Völkermord, Deportation in die syrische Wüste und den Exodus überlebt hatten und zunächst in Marseille gelandet waren - das Eingangstor nach Frankreich und bis heute die grösste armenische Stadt des Landes. Entlang des Wegs in Richtung französischer Hauptstadt auf der Suche nach Arbeit entstanden im Rhonetal weitere, bis heute wichtige und lebendige Zentren der armenischen Diaspora: Valence, Vienne und Lyon.
Armenische Schule
Im Süden von Alfortville, unweit der Seine und neben der kleinen, weissen armenischen Kirche, drängeln sich an jedem Wochentag kurz vor halb Neun rund 200 Kinder im Alter zwischen 3 und 10 im Vorhof der franko- armenischen Privatschule. Die Autos der Eltern blockieren eine gute Viertelstunde lang die Strasse. Zwei ältere Herren der Gemeinde überwachen sorgsam den Eingang zum Schulgelände, nachdem sie zuvor auch die Türen der Kirche nebenan geöffnet haben. An der Wand des Schulgebäudes prangt eine Metalltafel, auf der in armenischer Schrift die Namen der grosszügigen Spender aus der armenischen Gemeinde Frankreichs aufgelistet sind, die den Schulbau vor knapp 40 Jahren ermöglicht haben.
"In der ersten Klasse, für die Dreijährigen, ist der Unterricht auf Armenisch, es ist ein Eintauchen in die Sprache. Im 2. Jahr gibt es dann eine Stunde Französisch", erläutert die knapp 60- jährige Direktorin, die selbst erst Anfang der 90-er Jahre, nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion, aus Armenien nach Alfortville gekommen war. Heute hat sie Jahr für Jahr weit mehr Anfragen als Plätze für die Kinder armenischer Familien. "Es gibt hier", so Sirarpie Kossoyan, "eine Art Erwachen, was das Erlernen der armenischen Sprache angeht. Das sehen wir seit mehreren Jahren ganz deutlich. Immer mehr junge Paare wollen heute, dass ihre Kinder die Sprache lernen und wollen ihnen so auch ihre Identität weitergeben. Die Zweisprachigkeit öffnet ja auch den Horizont, gibt den Kindern mehr Möglichkeiten, zumal Armenisch eine sehr reiche Sprache ist und am Ende ihrer Schulzeit hier dürfen die Kinder auch nach Armenien reisen, um dort die wichtigen historischen Stätten zu besichtigen und um das Armenisch zu hören, wie es im Land gesprochen wird."
Gewohnheiten
Generell, so erfährt man bei dieser Gelegenheit, haben die Reisebüros, die auf Armenien spezialisiert sind, in den letzten drei, vier Jahren absolute Hochkonjunktur. Die Rückkehr zu den Wurzeln - auch wenn das unabhängige Armenien nur noch ein Zehntel der ehemals armenischen Gebiete umfasst - ist in der Diaspora zur Zeit en vogue.
Beim Verlassen der Schule öffnet einer der beiden älteren Herren noch einmal die Kirche nebenan und prüft, ob auch alles bereit ist für die Beerdigung, die heute stattfindet. Am Ende der Totenmesse nach altem Ritus wird die Trauergemeinde dem Sarg zu Fuss in einer Prozession bis zum Friedhof folgen. Nur fünf Kilometer vor Paris löst das regelmässig ein kleines Verkehrschaos aus.
Als die Stadtverwaltung schon vor Jahren Anstalten machte, diese Trauerzüge zu untersagen, kam es aber zu einem regelrechten Aufstand der armenischen Gemeinde von Alfortville, die sich letztlich durchsetzte. Die alte Sitte - urbanes Umfeld hin oder her - darf seitdem weiter gepflegt werden.
Armenische Köstlichkeiten
Nur einen Steinwurf von der Kirche entfernt, in der Hauptstrasse des südlichen Alfortville, leuchtet die grell-blaue Fassade des Lebensmittelgeschäfts « Ararat », wo so ziemlich alles zu finden ist, was Herz und Magen eines Armeniers begehren können . Soudjuk z.B., eine tief dunkle Wurst aus Rindfleisch. Sie werde, so der Inhaber, jetzt schon seit drei Generationen in Alfortville hergestellt, Grossvater und Vater haben sie gemacht und jetzt mache auch der Enkel weiter. Dasselbe gilt für mehrere Sorten von Kuchengebäck - alles andere wird importiert: aus Armenien, Russland, der Türkei, Griechenland oder aus dem Libanon. Nur aus Syrien kommt jetzt nichts mehr.
Auf der Theke über den verschiedenen Käsesorten in ihrer Lauge liegen auch armenische Zeitungen aus, darunter die türkisch - armenische Wochenzeitung "Agos", deren Mitbegründer, Hrant Dink, 2007 von türkischen Nationalisten ermordet worden war. Auf einem Tisch liegen Reste von armenischen Osterspezialitäten aufgereiht, in den Regalen sind selbst Bier und Wein armenischer Provenienz. Armenien, so der gutmütige Besitzer des Geschäfts, sei die Wiege des Weins, dort sei er in der Welt zum ersten Mal ausgebaut worden, schliesslich habe man Weinkeller gefunden, die dort schon 6000 Jahre vor Christus bestanden haben.
Haus der armenischen Kultur
Seit 4 Jahrzehnten hat Alfortville auch ein „Haus der armenischen Kultur“ – eine alte Dame ohne Nachfahren hat ihr grosses Einfamilienhaus damals der armenischen Gemeinde überlassen, unter der Bedingung, dass sie bis an ihr Lebensende ein Zimmer behalten konnte. Über 20 Vereine und armenische Parteien sind heute hier beheimatet, mehr als 300 Interessierte in armenischen Sprach-, Tanz- oder Theaterkursen eingeschrieben, oder im Schachverein, der besonders grossen Zulauf hat. Jährlich organisiert das Haus im Kulturzentrum von Alfortville immer noch den einzigen armenischen Buchsalon der Diaspora in Europa. Die Direktorin, Hasmig Kevonian, ist so etwas wie das lebende Gedächtnis der Armenier von Alfortville, einer Gemeinde, die von Anfang an aussergewöhnlich stark strukturiert war.
"Die Armenier sind 1923 hier angekommen und 1926 gab es schon einen Solidaritätsverein armenischer Frauen. Diese Frauen kümmerten sich um die, die noch ärmer waren als sie, die zu jener Zeit selbst mit drei Familien zusammen in einem Keller lebten. Ganz wichtig war auch: ein Armenier ist nun mal Christ. Auch wenn er nicht in die Kirche geht und praktiziert, so braucht er doch die Heiligen Sakramente. Die katholische Kirche in Frankreich gab sie ihnen damals aber nicht. Da ein Armenier aber ohne Sakramente nicht sterben kann, baute er eben eine Kirche. 1928 haben die Armenier hier ein Stück Land gemietet, es dann gekauft und nach Feierabend bauten die Leute damals die Kirche. 1930 war sie fertig."
Das Land rekonstruieren
Ein Viertel Jahrhundert lang waren die Armenier in Alfortville und in ganz Frankreich schlicht Illegale, Ausländer ohne Papiere und Status. Erst 1948, als Stalin die Armenier zur Rückkehr ins Sowjetreich aufforderte, wachte die Regierung in Paris auf und gab den Armeniern die Möglichkeit, die französische Staatsbürgerschaft zu beantragen.
"Heute", so die Direktorin des Kulturzentrums, "spricht man bei Ausländern von Familienzusammenführung. Damals hatten die meisten Armenier, die nach Frankreich gekommen waren, aber ihre gesamte Familie verloren. Familienzusammenführung hiess im Fall der Armenier: die Leute kamen aus demselben Dorf, derselben Stadt, derselben Provinz in Armenien und die Gemeinde hier wurde ihre neue Familie. Sie haben in Alfortville und in anderen Städten in gewisser Weise einen Teil ihrer Heimat rekonstruiert, mit Menschen, die aus derselben Provinz da unten stammten."
Immer wieder neue Ankömmlinge
Alfortville hat die Jahrzehnte über immer neue Wellen von armenischen Immigranten aufgenommen und tut es bis heute. Zuletzt sind sogar einige Familien aus Syrien eingetroffen. 1975, nach dem Ausbruch des Krieges, waren Armenier aus dem Libanon gekommen. In den 80-er Jahren, als in der Türkei die Armee die Macht übernommen hatte, waren es Armenier, die in Istanbul überlebt hatten.
"Sie waren türkischsprachig," erzählt Hasmig Kevonian, " was für unsere Ältesten in der Gemeinde recht schwierig war. Plötzlich hörten sie die Sprache wieder, die sie hatten ertragen müssen, damals, als sie den Rest ihrer Familie verloren haben. Doch auch daran hat man sich hier gewöhnt. 1990-92 kam dann eine andere Welle von Emigranten, diesmal aus wirtschaftlichen Gründen, nachdem Armenien unabhängig und die ökonomische Lage extrem schwierig geworden war. Diesen Emigranten ging es aber nur ums Geschäftemachen, die armenische Kultur war ihnen reichlich egal. Was zählte war: so schnell wie möglich Franzose zu werden. Wir sagten ihnen damals: ihr habt doch das Glück, aus dem Land selbst zu kommen, im Gegensatz zu uns bis vor kurzem dort gelebt zu haben, sprecht mit Euren Kindern doch wenigstens die Sprache ! Ein Jahr später aber sprachen diese Kinder schon kein armenisch mehr.
Und dann gibt es noch eine Gruppe von Immigranten, die mich ganz besonders berührt. Das sind die Armenier aus Anatolien, die in den letzten Jahren gekommen sind. Sie sprechen türkisch und kurdisch, armenisch können sie nicht sehr gut. Sie haben auch nicht viel Vermögen, sind eher arm, aber sie erinnern mich an meine eigenen Vorfahren. Sie reden genau so wie meine Grosseltern, wenn sie zum Beispiel von den Quellen sprechen oder vom Wasser, das in den Bergen fliesst, obwohl sie doch von jeder armenischen Kultur seit 80, 90 Jahren abgeschnitten waren."
Radio Eriwan
Die Neuankömmlinge heute finden in Alfortville sogar ein zweisprachiges Radio der armenischen Gemeinde vor, das täglich von rund 30 000 Menschen in der Region Paris gehört wird. "Unser Radio", sagt Henri Papazian , der Direktor, "begleitet, da es zweisrprachig ist, auch die Integration der neuen Auswanderer aus Armenien, um die wir uns sorgen müssen, damit der Bruch mit ihrer ursprünglichen Kultur nicht zu brutal ausfällt. Für sie ist es wichtig, dass sie nicht von jeder Art armenischer Kultur abgeschnitten sind. "
Ein Fixpunkt im Programm der Radiostation, neben Kultur und Musik und den zweisprachigen Nachrichten, ist der direkte Kontakt mit Armenien . Es gibt eine tägliche Live-Sendung, in der Persönlichkeiten aus Politik, Kultur und Wissenschaft aus Armenien direkt zu Wort kommen und miteinander diskutieren.
AYP FM - so der Name des Radios - hat durchaus ein gewisses politisches Gewicht und einen direkten Draht zu den einflussreichen Armeniern im gesellschaftlichen Leben Frankreichs - der Sänger Charles Aznavour, der Ex- Formel 1 Pilot, Alain Prost oder die Familie des Kaviar- und Feinkostimperiums Petrossian. Nicht zu vergessen einige Politiker. Den bekanntesten, den ehemaligen Sarkozy-Vertrauten, Patrick Devedjian, der beinahe Justizminister geworden wäre, versuchen die Mitarbeiter der Radiostation gerade für ein Interview zu gewinnen am Tag, da er ein Mahnmal für den Völkermord an den Armeniern in der Vorstadt Sceaux einweihen wird, als Präsident des reichsten Departements Frankreichs, den Hauts- de -Seine, in dem das Pariser Manhattan, La Défense und der Nobelvorort Neuilly liegen.
Kampf um die Anerkennung des Völkermords
"AYP FM" war auch ein wichtiges Relais im Kampf für die Anerkennung des Völkermords an den Armeniern durch das französische Parlament 2001. Ein weiteres Gesetz, das jüngst die Leugnung dieses Völkermords unter Strafe stellen sollte, ist allerdings vom französischen Verfassungsrat gekippt worden.
"Ich glaube," sagt Henri Papazian sehr ernst, " die türkische Botschaft in Frankreich hat dabei eine wichtige Rolle gespielt. Sie hat ganz eindeutig Druck ausgeübt auf eine Reihe von Persönlichkeiten und sie hat die Mittel dazu."
Die Zukunft
Ein Mal pro Woche hat auch Hasmig Kevonian, die Direktorin des armenischen Kulturzentrums, hier ihre Sendung mit überwiegend historischen Themen. Eine Frau, die überglücklich ist, dass ihre Enkelkinder noch armenisch sprechen, die Kette auch in der vierten Generation nicht abgerissen ist. Und doch schwankt sie zwischen Zuversicht und Pessimismus, was die Zukunft und das Überleben der armenischen Kultur und Sprache in der Diaspora angeht.
"Wir sind jetzt 100 Jahre weit vom Land selbst entfernt. Wie lange können wir unsere kulturelle und auch unsere politische Identität noch leben – denn Armenier bleiben zu wollen, ist ein politischer Akt – so weit weg vom Land unserer Herkunft? Gleichzeitig gibt es inzwischen aber z.B. eine ganze Anzahl von Türken, die festgestellt haben, dass sie armenischer Herkunft sind. Und sie sagen das auch ganz offen! Das ist ermutigend. Wir haben jetzt sogar auch eine armenische Basilika in der Türkei restaurieren können. Wenn ich dann auch noch meine Enkelkinder anschaue, besonders den Ältesten, der 19 ist, mit dem ich mich auf armenisch unterhalten kann und ihm sagen : die Sowjetunion ist zusammengebrochen und Armenien ist immerhin eine Republik – auch wenn bei weitem nicht alles zum Besten steht. Wir können heute auch in die Türkei fahren und dort z.B. armenische Kirchen oder Brunnen restaurieren. Da sag ich mir: na ja, das ist nicht zu vernachlässigen. Manchmal sind wir deprimiert und meinen, es geht zu Ende mit unserem Armeniertum und gleichzeitig sehen wir solche Entwicklungen und hoffen dann wieder – es ist ein sehr durchmischtes Gefühl."