„Die Menschheit setzt den Weg fort, den sie seit Anbeginn beschritt. Wo er endet, ist offen. Klar scheint nur, dass ein Dogma der Abschottung in der Sackgasse enden wird. Solch eine Welt gab es nie. Die Reise der Menschheit wird weitergehen. Wir werden an Grenzen stossen. Und diese Grenzen nicht akzeptieren. Dafür sind wir nicht gemacht.“
Echte Zeitenwende
Mit diesen eher skeptischen Worten endet nach 255 spannenden Textseiten ein Buch, welches die Autoren Johannes Krause und Thomas Trappe „Die Reise unserer Gene“ genannt haben. Der Untertitel erklärt, worum es den Verfassern geht. Er lautet: „Eine Geschichte über uns und unsere Vorfahren.“ (1)
Der Prolog des Buches beginnt genauso spannend, wie der eingangs zitierte Schluss. Daher noch einmal ein Zitat: „So etwas hatte Europa noch nie erlebt. Der Strom der Migranten, der über den Balkan kam, ins Zentrum des Kontinents vordrang, markierte eine ... echte Zeitenwende. ... Die alteingesessenen Europäer waren ohne Chance. ... Die Menschen, die Europa fortan bewohnten, sahen anders aus als jene, die sie verdrängt hatten – ein Bevölkerungsaustausch.“
Die grosse genetische Familie
Keine Angst, die Verfasser wollen diesen Text nicht als düstere Prognose verstanden wissen. Die Ereignisse sind 8000 Jahre alt. Damals wanderten aus Anatolien Ackerbauern nach Europa ein, welche die alteingesessenen Jäger und Sammler verdrängten. Woher man das alles so genau weiss ? Sicher, Archäologen haben schon viele Funde ausgegraben, welche auf diese Ereignisse hindeuten. Professor Johannes Krause indessen, der Hauptautor des Buches, vertritt einen relativ neuen Wissenschaftszweig, den der Archäogenetik.
Er ist Direktor des Max-Planck-Institutes für Menschheitsgeschichte in Jena und war, wie der Klappentext des Buches erklärt „massgeblich an der Entschlüsselung des Neandertaler-Genoms beteiligt. (Koautor Thomas Trappe hat das Buch journalistisch begleitet.) Somit ist Professor Krause ein führender Vertreter des jungen Wissenschaftszweiges der Archäogenetik, welche „in der Medizin entwickelte Methoden“ benutzt, „um altes Erbgut, das teilweise Hunderttausende Jahre alt ist, zu entschlüsseln“, wie Professor Krause schreibt.
Aktuelle Bezüge ? Die Worte Einwanderung über den Balkan, Balkanroute weisen bewusst auf Ereignisse der Gegenwart hin. Diesen Kontext verschweigen die Autoren in keiner Weise. Doch ihre Schlussfolgerungen, basierend auf der Archäogenetik, sind andere als jene Ideen von Leuten, die heute glauben, Migrationsbewegungen vollständig unterbinden zu können. Die Autoren schreiben: „Die Archäogenetik zeigt, dass es Menschen mit reinen europäischen Wurzeln nicht gibt und wohl auch nie gab. Wir alle haben einen Migrationshintergrund“, und von diesem, so die Autoren, „erzählen unsere Gene“. Im Grunde sei die Welt „eine grosse genetische Familie“.
Keine Rangordnung
Die Erforschung der Gene ist, wie die Autoren schreiben, schon anhand kleinster Knochenbruchteile möglich. So fanden Forscher in der Denisova-Höhle im Altaigebirge die Knochen eines Fingers, in dem sie die DNA eines Urmenschen entdeckten. Dieser Urmensch – er lebte vor 75’000 bis etwa 56’000 Jahren – hatte sowohl Gene des Neandertalers als auch Gene des modernen Menschen. In ihrem leicht verständlich geschriebenen Buch befassen sich die Autoren mit den Genen des Neandertalers, mit der Einwanderung der Afrikaner in den europäischen Kontinent, mit den Wanderungen der Völker weltweit und mit der Bedeutung beziehungsweise mit der Unwichtigkeit der Hautfarbe für die Einschätzung eines Menschen. Sie befassen sich mit dem Einfall von Krankheiten, etwa der Pest, die mit den Wanderungsbewegungen einhergingen.
Eine ihrer wichtigsten Ergebnisse – basierend auf der Entschlüsselung menschlicher Genome weltweit – lautet: Im Grunde sind, genetisch gesehen, alle Menschen auf diesem Planeten miteinander verwandt. Die Einteilung in menschliche „Rassen“ sei zwar möglicherweise verständlich, weil der Mensch nun einmal dazu neige, verschiedene Phänomene zu klassifizieren, um sich so ein Gedankengerüst über die Vielfalt auf der Erde zu machen. Aber rassistische Theorien über die Überlegenheit oder Unterlegenheit der verschiedenen Populationen aufzustellen, dazu bestehe keinerlei Anlass. Kurz gesagt: Es gibt eine unendliche Vielfalt unter den Menschen, aber es gibt keine übergeordnete oder untergeordnete Rassen, aus deren angeblicher Rangordnung sich politisches Kapital schlagen liesse.
Die Hautfarbe
Beispiel Hautfarbe. Populationen hätten, schreiben die Autoren, „um so dunklere Haut, je mehr sie der Sonne ausgesetzt sind – unter dem Äquator Zentralafrikas gibt es die dunkelsten Hauttypen, in nördlichen Regionen die hellsten“. Der evolutionäre Sinn dieser Unterschiede liege auf der Hand: „Je ausgeprägter die Pigmentierung der Haut, desto weniger durchdringt sie die krebserregende UV-Strahlung.“ Weisse Australier etwa, die erst vor etwa 150 bis 200 Jahren aus England (oft als Strafgefangene) gekommen seien, wiesen weltweit die höchste Hautkrebsrate auf. Auch hätten Ureinwohner Amerikas, die auf der Höhe des Äquators lebten, dunklere Haut als jene im Süden des Kontinents, obwohl beide von derselben Population abstammten. Im Norden des Planeten dagegen sei starke Pigmentierung schädlich, weil schwarze Hautfarbe die Aufnahme von Sonnenlicht und damit von Vitamin D verhindere.
Die Lehre aus diesen Erkenntnissen: Hautfarbe ist kein Merkmal für eine bestimmte „Rasse“, sondern vielmehr lediglich ein Zeichen für die Herkunft eines Menschen. Und, enttäuschend für alle, welche noch immer von über- und untergeordneten Rassen fabulieren: die Unterschiede in der DNA der Einwohner Ost- und Westafrikas , schreiben die Autoren, „sind etwa doppelt so gross wie zwischen Europäern und Ostasiaten. Alle Menschen auf der Erde sind damit aus genetischer Sicht Teil der afrikanischen Vielfalt.“ Anhand dieser Erkenntnisse zeige sich, wie aussichtslos das Kriterium Hautfarbe für die Kategorisierung der Menschen sei, ein Nordire etwa habe deutlich hellere Haut als ein Bewohner Süditaliens – und doch gelten beide als „weiss“.
In einer Erklärung der Universität Jena, der Johannes Krause angehört, haben fünf Professoren geschrieben, dass es für die Einteilung der Menschen in „Rassen“ keinerlei Begründung gebe.
Mobilität
Und noch eine schlechte Nachricht für die Rassisten auf dem Planeten. Durch die Mobilität der Gegenwart, die Menschen aus allen Erdteilen über den Globus verteile, die miteinander Nachkommen zeugten, reduzierten sich die genetischen Unterschiede allmählich. „Für alle jene, die Menschen einzelner Nationen nach genetischen Gesichtspunkten sortieren wollen“, schreiben die Autoren, „ist das keine gute Nachricht. Wenn sich die DNA der Menschen auf der Welt immer weiter annähert, sind Konstrukte von Völkern und Rassen noch schwerer aufrechtzuerhalten als ohnehin schon.“ Deswegen, schreiben die Autoren, würden diese Konzepte wie Untote wieder hervorgeholt, Kampfbegriffe wie „Umvolkung“ und „Überfremdung“ grassierten und mündeten in die Vorstellung, „jegliche Migration verändere die DNA einer Bevölkerung und ihre Kultur gleich mit“.
So beweist und vertieft die Archäogenetik erneut die Erkenntnis: die Geschichte der Menschheit ist auch eine Geschichte ständiger Migration. Angesichts der neuen Wanderungsbewegungen, an deren Anfang wir eher stehen als an deren Ende, gebührt dieser kaum zu stoppenden Entwicklung überragende Bedeutung. Zweifellos hat Migration viel Leid mit sich gebracht – das Leid der Migranten und das Leid der Völker, welche die Migranten aufnahmen oder von ihnen verdrängt wurden. Zweifellos, schreiben die Autoren, sei die Geschichte der Migration auch eine Geschichte der tödlichen Krankheiten, die der Pest zum Beispiel, die in die Steinzeit zurückreiche und vermutlich eine „Schneise des Todes“ durch Europa geschlagen habe.
Dennoch: Ohne Migration, ohne den Austausch unter den Völkern hätte es, so sind die Autoren überzeugt, keine Entwicklung, vielleicht auch keinen „Fortschritt“ gegeben.
„Das Buch liefert, dessen sind wir uns bewusst, Argumente für diejenigen, die gegenüber der Migration aufgeschlossen sind, wie auch für jene, die ihr strikte Grenzen setzen wollen.“ Nur, schreiben die Autoren weiter, „wird hoffentlich niemand nach der Lektüre abstreiten, dass Mobilität in der Natur des Menschen liegt. Am liebsten wäre es den Autoren natürlich, wenn sich die Leser ihrem Standpunkt annäherten, dass die seit einigen Jahrtausenden erprobte globale Gesellschaft auch in Zukunft der Schlüssel zum Fortschritt sein wird, auch und vor allem für Europa.“
In der Tat, das „Dogma der Abschottung“ mündet, wie eingangs zitiert, in eine Sackgasse. Ende 2018 lag die Zahl der Menschen, die weltweit auf der Flucht waren, bei 70,8 Millionen. Im Vergleich dazu waren es Ende 2016 65,6 Millionen Menschen. (i) Die Reise der Menschheit wird, wie ebenfalls eingangs zitiert, fortgesetzt. Wesentliche Triebfeder dieser Reise wird auch in Zukunft die Migration sein.
(i) Quelle: Bericht der UN: https://www.uno-fluechtlingshilfe.de/informieren/fluechtlingszahlen/
(1) Johannes Krause mit Thomas Trappe: Die Reise unserer Gene. Eine Geschichte über uns und unsere Vorfahren. Verlag Ullstein Berlin, 4.Auflage 2019
Auszug aus der Erklärung der Friedrich Schiller Universität Jena vom 7.Oktober 2019:
Prof. Dr. Dr. h. c. Martin S. Fischer, Institut für Zoologie und Evolutionsforschung, Prof. Dr. Uwe Hossfeld, Institut für Zoologie und Evolutionsforschung, AG Biologiedidaktik, Prof. Dr. Johannes Krause, Direktor am Max-Planck-Institut für Menschheitsgeschichte, Prof. Dr. Stefan Richter, Allgemeine und Spezielle Zoologie, Institut für Biowissenschaften, Universität Rosto
„Die Idee der Existenz von Menschenrassen war von Anfang an mit einer Bewertung dieser vermeintlichen Rassen verknüpft, ja die Vorstellung der unterschiedlichen Wertigkeit von Menschengruppen ging der vermeintlich wissenschaftlichen Beschäftigung voraus. Die vorrangig biologische Begründung von Menschengruppen als Rassen – etwa aufgrund der Hautfarbe, Augen-oder Schädelform – hat zur Verfolgung, Versklavung und Ermordung von Abermillionen von Menschen geführt. Auch heute noch wird der Begriff Rasse im Zusammenhang mit menschlichen Gruppen vielfach verwendet. Es gibt hierfür aber keine biologische Begründung und tatsächlich hat es diese auch nie gegeben.“
https://www.uni-jena.de/190910_JenaerErklaerung.htmlhttps://www.uni-jena.de/190910_JenaerErklaerung.html