Ein nüchterner Blick auf die Traktandenlisten von Spitzenpolitikerinnen und -politikern in vielen europäischen Nationen, ebenso die Beurteilung der erzielten Resultate, zeigt: Die drängendsten Antworten auf die Fragen des Volkes, die ersten Schritte zu längst überfälligen Reformen, auf welche die Bevölkerung wartet, waren oft nicht einmal traktandiert.
Die Geburtsstunde der Retter
Die enttäuschte Bevölkerung hadert mit dieser Politik. Das ist die Geburtsstunde der Retter aus der Not. Diese repräsentieren den selbstlosen, entschlossenen Missionar der Zukunft, voller Tatendrang und Rhetorikbrillanz. Sie beschwören die gute alte Zeit, um die Frustrierten um sich zu scharen. Gleichzeitig verhöhnen diese Populisten die Kleingeister und Verwalter des Stillstands der Gegenwart. Und vor allem: Sie kennen das Programm des Wandels, das Mitbürgerinnen und Mitbürgern eine bessere Zukunft garantieren würde.
Die Erbschaft, die diese Schlaumeier antreten, war einst Stammterritorium alter politischer Parteien. Deren Technokraten haben über die Jahrzehnte ihre Kundschaft zu oft vergrault, enttäuscht und dadurch ihre Unterstützung verloren.
„Let Europe arise“
Dass sich die EU in einer schwelenden Krise befindet, ist offensichtlich. Seit der Präsident der USA das Rad der Zeit zurückdreht, jener in Russland Ideen verfolgt, die inkompatibel sind mit dem europäischen freiheitlichen Gedankengut, und Chinas KP-Vorsitzender nur ein müdes Lächeln für die Strategien westlicher Staatsoberhäupter übrig hat, ist die Welt eine andere, eine gefährlichere geworden. Wer davor nicht die Augen verschliesst, muss die Richtung neu bestimmen, seine politischen Strategien revidieren.
70 Jahre nach Churchills legendärem „Let Europe arise“, könnte „Lassen wir Europa auferstehen“ wieder ein Ziel sein. Doch das Projekt eines mehr EU-zentristischen Gemeinwesens ist fragwürdig. Es widerspiegelt eine überholte Denkposition. Inzwischen spriesst die Erkenntnis, dass Europa viel mehr verkörpert als von Brüssel konzipierte Verwaltungsrichtlinien. Europas Einmaligkeit basiert seit der Renaissance auf national unterschiedlichen Kulturen und Wertetraditionen.
Die politischen Strukturen genügen nicht mehr
Warum dreht sich Europa ideenlos im Kreis, wobei sich dessen Mittelpunkt unaufhaltsam nach rechts verschiebt? Die heutigen politischen Strukturen genügen nicht mehr, sie sind Produkte der letzten beiden Jahrhunderte. Deren Protagonisten sind die politischen „Eliten“, parteiengebunden, oft ideologisch, zu stark auf das eigene Wohl fokussiert. Während sie sich vordringlich mit ihren Parteiprogrammen, den nächsten Wahlen oder der medial inszenierten Beeinflussung der Wählerschaft beschäftigen, machen sich im Volk Besorgnis, ja Angst vor der Zukunft breit. Frauen und Männer spüren instinktiv, dass die aktuellen politischen Rezepte zwar vergangenheitserprobt, jedoch wenig zukunftstauglich und von Interessen-Lobbys geprägt sind.
Auch in der Schweiz erfüllen die alten politischen Parteien ihre Aufgaben nicht mehr. Seit Jahrzehnten scheitern die dringendsten Reformen des helvetischen Systems, die Debakel um die Unternehmenssteuer- oder die Rentenreform sind in frischer Erinnerung. Diese Parteien tragen die direkte Verantwortung: deren enorme Polarisierung, die forcierte Beschwörung der Parteidisziplin auf die „einzige und richtige“ Doktrin, dies alles hat längst den Weg der früher erfolgreichen Konsensdemokratie verlassen und ist im Gestrüpp der Hardliner, staatsgläubiger Kämpferinnen zur Überwindung des Kapitalismus und konservativer, neoliberaler Ewiggestriger hängen geblieben. Parteistrategen mögen stolz auf die eigene Fraktionsdisziplin hinweisen und eigene Meinungsabweichler zurückgepfiffen haben, doch genau diese eigenständig denkenden Mitglieder fehlen heute als Brückenbauer in der Konsensfindung. Dabei heisst es in der Bundesverfassung grossartig: „Die Mitglieder der Bundesversammlung stimmen ohne Weisungen.“
Neue Dimension der globalen Entwicklung
Um nicht Gefahr zu laufen, das Kind mit dem Bad auszuschütten, muss diesen Kreisen zugute gehalten werden, dass einige prägende Ereignisse der Gegenwart schwierig zu lösen sind: „Das Scheitern hat etwas Symptomatisches, denn es zeigt hinter dem Nebel aus Anfeindungen und Animositäten, wie die Parteien getrieben und zerrissen werden durch Probleme, die aus der zusammenwachsenden Weltgesellschaft auf sie einstürzen und die sich innerhalb nationalstaatlicher Grenzen nicht mehr lösen lassen, […] beim Klimaschutz, bei der Migration, beim Kampf gegen die Erpressungsmacht der Global Players und Datenkraken, gegen Steuerdumping, Steuervermeidung und Steuerbetrug“ (DIE ZEIT).
Transparenz sorgt für Überraschungen
Wir fragen uns: ist gar das Ende dieser politischen Parteien nahe? Immer noch gehen viele mehrheitlich davon aus, dass ihre Gefolgschaft entweder links oder rechts, etatistisch oder liberal, europäisch oder nationalistisch tickt. Welcher Unsinn im 21. Jahrhundert des Internets und der Globalisierung! Längst ist ein Grossteil der Bevölkerung zur Einsicht gelangt, dass entweder/oder – der dualistische Ansatz vergangener Zeiten – durch sowohl/als auch zu ersetzen ist. Zu gross sind die Informationsmöglichkeiten, zu umfassend die eigene Ausbildung, zu weit gereist der moderne Mensch, um nicht zu realisieren, dass er selbst ja nicht mit entweder/oder zu verorten ist, wo er doch von Fall zu Fall – einmal für mehr Staat, das andere Mal für grössere Liberalisierung – optiert. Eine ganzheitlichere Sicht als früher wird ermöglicht durch die Transparenz der neuen Daten-Welt, die Informationen bereithält für den, der sie wünscht und Überraschungen für die andern.
Parteilose in der Schweiz im Vormarsch
Ein starkes Indiz der abnehmenden Wichtigkeit der politischen Parteien in den Gemeinden der Schweiz sind die Parteilosen (PL). Gemäss einer neuen Studie von Andreas Ladner, an der sich über 80 Prozent aller 2255 Gemeinden beteiligt haben, stellen die PL mittlerweile nicht nur die grösste Fraktion, sondern in 42 Prozent die Gemeindepräsidenten. Besonders pikant: innert 30 Jahren hat sich dieser Anteil glatt verdoppelt. Dagegen hat sich etwa der Anteil der CVP im gleichen Zeitraum beinahe halbiert und auch die SVP stürzte ab: von einem Zwanzig- auf einen Zehnprozentanteil.
„Europe en Marche!“
Ausgerechnet in Frankreich, dem Paradeland für staatlich bevormundetes Bürgertum mit unbezahlbaren Privilegien und kolossalem Reformstau, steigt wie Phönix aus der Asche ein neuer „Roi“ auf den Thron. Im Land, das Könige vergöttert und ermordet, hat der „parteilose“ Emanuel Macron ein Wunder geschafft. Statt parteifixiert, hat er kurzerhand eine neue Bewegung „La République en Marche!“, eine flexible Organisation für die ganze Bandbreite des politischen und gesellschaftlichen Spektrums, für Junge und Alte, für Arrivierte und Verlierer auf die Beine gestellt. Republikaner, Sozialisten und Front National, bisher politikbestimmende Parteien, greifen sich an den Kopf und verstehen la France nicht mehr.
Seine Sympathie für die französische Heimat und das befreundete Deutschland ist wegweisend. Jetzt will er auch die EU aus dem Tiefschlaf aufwecken. Schon immer war die wichtigste Voraussetzung für Frieden und Fortschritt in Europa, dass sich Frankreich und Deutschland die Hand reichen. Also: „Europe en Marche!“? Die EU hat es bitter nötig.
Das Jahrhundert-Projekt „EU21“
Könnten kompetente Vertreterinnen und Vertreter aus Wissenschaft, Wirtschaft, Gesellschaft, Kultur und politisch ungebundener Menschen das Projekt „EU21“ neu denken, visionär entwerfen? Wäre zum Beispiel der Europarat aufzuwerten? In einer neuen Form, kooperierend mit den oben skizzierten Vertretungen aus Bildungs-Netzwerken beherzter Autoren, Denkern und Wissenschaftlern; auch mit Workshops aus KMU- und Konzernkreisen, die eine neue Reformagenda skizzierten? Menschen, die sich aktiv dafür einsetzten, die Gräben zwischen „Eliten“ und Volk zuzuschütten?
Auf der Suche nach neuen politischen Strukturen meinte kürzlich der Schriftsteller Ingo Schulze, wir tolerierten heute eine „marktkonforme Demokratie statt demokratiekonforme Märkte“. Darüber lohnt sich, nachzudenken. Ist gar unsere Gesellschaft mitverantwortlich dafür, dass – wenn Konsum, freie Marktwirtschaft, Egoismus und Nationalismus den Wertekanon bestimmen – die alten politischen Parteien ins Abseits geraten?