Das amerikanische Abgeordnetenhaus hat letzte Woche einem Gesetzesvorschlag zugestimmt, laut dem eine unabhängige Kommission die Vorgänge des 6. Januar (1/6) näher analysieren soll. 252 Abgeordnete, unter ihnen 35 Republikaner, stimmten dafür, 175 dagegen. Doch die Chancen, dass auch der Senat die Vorlage bejaht, sind äusserst gering. 60 Senatoren müssten für das Gesetz stimmen, was bei der jetzigen Sitzverteilung in der kleinen Kammer (je 50 Demokraten und Republikaner) unwahrscheinlich ist.
Der Widerstand der republikanischen Partei ist ein weiteres Indiz dafür, wie stark der Einfluss Donald Trumps in der Grand Old Party (GOP) nach wie vor ist und wie wenig sich die meisten Volksvertreter getrauen, dem früheren Präsidenten und seinen Behauptungen zu widersprechen, beim Urnengang am 3. November 2020 sei es, «The Big Lie», zu massivem Wahlbetrug gekommen. Seinerzeit nach den Terroranschlägen von 9/11 hatte ein eigens eingesetztes Gremium einen 576-seitigen Untersuchungsbericht veröffentlicht, der wie folgt begann: «Dienstag, der 11. September 2001, brach im Osten der Vereinigten Staaten mit gemässigten Temperaturen und fast wolkenlos an.».
Wer es in Washington DC trotzdem wagt, die Realität anzuerkennen, muss dafür büssen. So jüngst die erzkonservative Abgeordnete Liz Cheney, Tochter eines früheren Vizepräsidenten, die ihren Posten im Fraktionsvorstand der GOP verlor. Die meisten ihrer Parteikollegen schielen bereits ängstlich auf die Zwischenwahlen 2022, allen voran Kevin McCarthy, der Minderheitsführer der Republikaner im Repräsentantenhaus, dem ein Kolumnist der «Washington Post» bescheinigt, «moralische Fiber aus Chiffon» zu besitzen. Selbst der Bruder von Ex-Vizepräsident Mike Pence stimmte im Haus gegen den Gesetzesvorschlag. Dass der Mob am 6. Januar «Hang Mike Pence!» geschrien und vor dem Kapitol einen Galgen errichtet hatte, konnte ihn offenbar nicht umstimmen.
Die Argumente der Republikaner gegen eine Untersuchungskommission reichen von entfernt sinnvoll bis zu absolut lächerlich. Mitch McConnell, Minderheitsführer im Senat, begründete seine Ablehnung mit dem Hinweis, die parlamentsinterne Untersuchung des Sturms auf das Kapitol genüge vollauf. Ausserdem sei der Gesetzesvorschlag «tendenziös und unausgewogen» sowie Ausdruck fieser Parteitaktik. Als ob «Mitch the Bitch», einem cleveren Intriganten erster Güte, das Taktieren fern liege. Indes argumentierte die Abgeordnete Marjorie Taylor Green, die Kommission würde lediglich dazu dienen, die Anhängerinnen und Anhänger Donald Trumps und den Ex-Präsidenten selbst zu verleumden.
Der Abgeordnete Andrew S. Clyde hatte zuvor in einem Hearing bemerkt, die Fernsehbilder vom 6. Januar aus dem Innern des Kapitols würden bei ihm den Eindruck erwecken, bei den Eindringlingen handle es sich um «normale Touristen». Er vergass dabei, dass Fotos existieren, die zeigen, wie er an jenem Mittwoch verzweifelt versucht, eine Türe zum Sitzungssaal zu verbarrikadieren.
In derselben Anhörung beschuldigten republikanische Politiker die Bundespolizei (FBI), «friedliche Patrioten im Lande» zu belästigen: «Unverblümte Propaganda und Lügen werden dazu missbraucht, den Sicherheitsstaat gegen gesetztestreue US-Bürgerinnen und Bürger, insbesondere Trump-Wählerinnen und Wähler, aufzuhetzen.» Das FBI hat inzwischen etliche gewalttätige Protestierende des 6. Januar identifiziert und verhaftet. Wieder andere Republikaner im Haus mutmassten, die Unruhestifter, die Donald Trump aufgefordert hatte, den Diebstahl der Wahl zu stoppen, aufs Kapitol zu marschieren und «höllisch zu kämpfen», seien keine Trump-Anhänger, sondern linke Unruhestifter gewesen.
Die Argumente widerspiegeln jene alternative Realität, die Donald Trump im März in einem Fernsehinterview mit Fox News erneut beschworen hat. Der Angriff auf das Kapitol, so der Ex-Präsident, habe «Null Risiko» beinhaltet und einige seiner Anhängerinnen und Anhänger seien zwar, was sie nicht hätten tun sollen, ins Kapitol eingedrungen, hätten dort aber die Polizisten und Sicherheitsleute umarmt und geküsst: «Sie hatten tolle Beziehungen.» Beim Sturm auf das US-Parlament sind 140 Polizisten teils schwer verletzt worden. Fünf Menschen starben, unter ihnen eine Trump-Anhängerin – laut Justiz ein Fall von Notwehr, den ein GOP- Abgeordneter aber als «Hinrichtung» titulierte.
Kurt Bardella, ein politischer Kommentator, der aus der republikanischen Partei ausgetreten ist, brachte die ganze Diskussion um die Untersuchungskommission auf einen Punkt: «Von den Republikanern zu erwarten, sie würden 1/6 untersuchen wollen, ist wie wenn man Al Qaida auffordern würde, 9/11 zu studieren.» Die Leute, die mitgeholfen hätten, die Attacke zu planen und zu propagieren, würden sich nicht an der Untersuchung beteiligen.
«Heiliger Bimbam! Inkohärenz!», rief derweil der demokratische Abgeordnete Tim Ryan erregt seinen republikanischen Parlamentarierkollegen zu: «Ich habe keine Ahnung, wovon ihr sprecht… Wir haben Leute, die das Kapitol erklettern, Polizisten Bleirohre auf den Kopf hauen, und es gelingt uns nicht, uns über die Parteigrenzen hinweg zu einigen. Was sonst muss in diesem Lande noch geschehen?»
Es ist eine gute Frage. Es kann in den USA in der Tat noch Schlimmeres passieren, solange die Republikaner nicht zu politischen Akteuren mutieren, die nicht nur die eigene Karriere, sondern auch das Allgemeinwohl im Auge behalten. Solange die republikanische Partei ein Personenkult bleibt, in dem die Loyalität zum geliebten Führer über allem steht und alles Handeln bestimmt. Auf jeden Fall ist das Vorgehen der GOP ein weiterer durchsichtiger Versuch, ein unliebsames Kapitel der amerikanischen Geschichte zu unterdrücken oder zu vertuschen. Amerikas Ureinwohner und seine Schwarzen haben erfahren, was das heisst.
Er könne den Versuch der Republikaner, die Wahrnehmung der Ereignisse am 6. Januar zu verändern, nicht auf die leichte Schulter nehmen, schreibt in der «New York Times» der afroamerikanische Kolumnist Charles M. Blow: «Erinnerung ist formbar. Diese Taktik mag in 50 Fällen misslingen und nur in fünf Fällen funktionieren, aber Jahre später ist das Verhältnis vielleicht umgekehrt.» Der Titel seiner Kolumne: «Geschichte kann ausgelöscht werden. Das ist ihr oft widerfahren.»