Portugal, einst als «Armenhaus Europas» bemitleidet, hat als Mitglied der EU einige grosse Sprünge bewältigt. Wie die Menschen über die Runden kommen und sich sogar Autos leisten können, bleibt für Leute von aussen jedoch rätselhaft, da «Europa» bei den Löhnen nicht angekommen ist.
«Urgently need full time waitress. Must speak Portuguese» lautet ein Aushang im Fenster eines Restaurants für portugiesische Kost im Norden der Innenstadt von Lissabon. Nicht nur in chinesischen Restaurants oder in Imbissen vom Typ Döner Kebap kann die Verständigung mitunter holprig sein. Selbst wer normale portugiesische Restaurants aufsucht, kann hier und da Kellnerinnen und Kellnern aus Asien auf Englisch verklickern müssen, wie gut der Thunfisch gegrillt sein soll. Noch ist das eher die Ausnahme. Offenbar aber ist Personal, das die Landessprache spricht und bereit ist, für die gebotenen Verdienste zu arbeiten, nicht immer und überall leicht zu finden.
Knappe Arbeitskraft
Nach dem «pandemischen» Einbruch des Jahres 2020 kehrt nach und nach die Normalität zurück. Lissabon und andere Städte füllen sich wie wieder mit Touristen. Im Hotel- und Gaststättengewerbe aber fehlten schon Ende des letzten Jahres rund 85’000 Arbeitskräfte, schätzte damals der World Travel & Tourism Council (WTTC). Nicht nur in dieser Branche ist die Arbeitskraft knapp. In der Bauwirtschaft würden 70’000 bis 80’000 Arbeiter benötigt, konstatierte vor einigen Monaten der Branchenverband AICCOPN. In den Jahren der Finanzkrise waren zahlreiche Arbeiter emigriert. Mit ihrer Rückkehr sei jedoch nicht zu rechnen.
Was könnte sich verändern, wenn die Löhne etwas höher wären? Nicht viel, verlautet von Seiten des Hotelgewerbes, das sich von der Zahlung höherer Löhne wenig verspricht. Wie es überhaupt möglich ist, von den üblichen Löhnen zu leben, bleibt für Aussenstehende derweil rätselhaft, zumal die meisten Preise längst «europäisches» Niveau haben.
Immerhin gibt es einen gesetzlichen Mindestlohn, der vor Armut schützen soll. Vor der Parlamentswahl im Januar dieses Jahres hob Regierungschef António Costa vom Partido Socialista (PS) gern hervor, dass dieser seit seinem Amtsantritt im Jahr 2015 von damals 505 Euro um rund 40 Prozent gestiegen sei. Der letzte Anstieg, von 665 Euro im Jahr 2021 auf jetzt 705 Euro monatlich (dieses wird, wie alle Löhne und Gehälter, 14-mal im Jahr fällig), habe 880’000 Arbeitnehmer begünstigt. Eine etwas geringere Zahl, nämlich 850’000, veranschlagte der Präsident des Arbeitgeberverbandes CIP, António Saraiva. Ihm zufolge dürfte die Zahl jener Arbeitnehmer, die genau den Mindestlohn beziehen, zum 1. Januar 2022 auf 1,2 Millionen gestiegen sein.
Nivellierung von unten
Hunderttausende von Frauen und Männern, die vorher bis zu 40 Euro weniger als 705 Euro erhielten, verdienen jetzt das neue Minimum. Weil nicht auch alle anderen Verdienste automatisch steigen, erhalten manche Fachkräfte plötzlich also nicht mehr als ungelernte Kolleginnen und Kollegen – was nicht motivierend sein kann. Natürlich sagen Statistiken aber nicht die ganze Wahrheit. Niemand weiss nämlich, wieviel vor allem kleinere Klein- und Kleinstbetriebe ihren Beschäftigten unterm Tisch auszahlen, um bei den Sozialabgaben zu sparen.
Durch die Nivellierung schmilzt die Differenz zwischen dem Mindestlohn und dem mittleren monatlichen Bruttoverdienst der 4,2 Millionen abhängig Beschäftigten im Land, das im letzten Jahr laut Nationalem Statistikinstitut bei knapp über 1’100 Euro lag. Auch der Regierungschef hebt hervor, dass das Augenmerk auch dem mittleren Einkommen gelten müsse. Aber sein Anstieg lässt sich nicht dekretieren. Ein «europäisches» Niveau haben oft derweil die höheren Gehälter. Und so zählt Portugal in der EU zu den Ländern mit relativ starken Kontrasten bei der Einkommensverteilung.
Rote Nelken und Mindestlohn
Die Einführung eines Mindestlohns gilt als eine Errungenschaft der Nelkenrevolution vom 25. April 1974. Wenige Wochen nach dem Sturz der faschistoiden Diktatur in Portugal, damals als «Armenhaus Europas» apostrophiert, dekretierte eine Übergangsregierung einen Monatslohn von mindestens 3’300 Escudos, das waren zu damaligen Wechselkursen knapp 400 Schweizer Franken. Diese Neuerung begünstigte 1974 rund die Hälfte aller Arbeitnehmer.
Seit 1986, also seit nunmehr 36 Jahren, gehört Portugal zur heutigen EU, in der sich das Land als ein loyales Mitglied profiliert hat. Nicht zuletzt dank der Fördermittel aus Brüssel hat es einen enormen wirtschaftlichen Sprung gemacht. Im Jahr 1999 gehörte es gar zur Startgruppe des Euro. Gemessen an seiner am Kaufkraftstand gemessenen Wirtschaftsleistung pro Kopf ist Portugal aber ins Hintertreffen geraten. Mehrere jüngere Mitglieder – Estland, Litauen und Polen – haben Portugal, das 2021 auf 74 Prozent des EU-Mittels kam, in den letzten zehn Jahren überholt.
Massenhafte Emigration
Obwohl Portugal immer mehr Einwanderer aufnimmt, hat es mit seiner Tradition als Auswanderungsland nie gebrochen. In jüngerer Zeit haben die wirtschaftliche Besserung vor der Pandemie, die Pandemie selbst und der Brexit die Emigration gedämpft. Nach wie vor aber suchen qualifizierte und weniger qualifizierte Kräfte ihr Glück im Ausland – Bauarbeiter ebenso wie Küchenhilfen und Altenpflegerinnen, Ärztinnen, Architekten, Ingenieurinnen und Krankenpfleger.
Nicht nur wegen der Emigration ist im Land mit einer Arbeitslosenquote von rund 6 Prozent die Arbeitskraft in manchen Branchen knapp, und da würden Lohnerhöhungen womöglich keine Wunder bewirken. Oft sind die Stellensuchenden für die angebotenen Jobs überqualifiziert. Abschreckend wirken häufig neben den niedrigen Löhnen auch die flexiblen Arbeitszeiten und befristeten Verträge, bei denen junge Leute kaum an die Gründung eigener Familien denken können.
Toxisches Wachstum und Sonntagsreden
In den letzten Jahren vor der Pandemie mag die Wirtschaft im einstigen Euro-Krisenland gewachsen sein, aber dieses Wachstum hatte auch eine toxische Komponente. Ein Boom am Immobilienmarkt – zu dem sowohl der Tourismus als auch Käufe durch Ausländer beitrugen – hat Mieten und Kaufpreise für viele Menschen unbezahlbar gemacht. Nirgendwo sonst in der EU leben so viele junge Leute unter 35 noch bei ihren Eltern.
Warum fahren trotzdem so viele neue Autos auf verstopften Strassen? Wie ist das Gedränge in den Einkaufszentren zu erklären? Und warum ist in Restaurants oft kein freier Tisch zu finden? Viele Menschen haben zwei Jobs. Eine Büroangestellte kann an Wochenenden in Teilzeit noch an der Kasse des Supermarktes sitzen. Wenn der Lohn für den neuen Fernseher nicht reicht, hilft ein Konsumkredit. Schuldner von Hypothekardarlehen können sich vorerst noch – bis wann, steht dahin – über niedrige Zinsen freuen. Und wer als junger Erwachsener bei den Eltern lebt, «investiert» oft eher in ein Leben «hier und heute», zu dem etwa das eigene Auto gehört, als an die eigene Wohnung zu denken. Ohne Improvisation läuft wenig bis nichts. Ins Bild dieser Zweidrittelgesellschaft gehören nach wie vor indes auch die Armut im Alter sowie Frauen und Männer, die auf die Erstattung der Einkommenssteuer oder das Weihnachtsgeld warten, um sich einen Besuch beim Zahnarzt leisten zu können.
Seit Jahrzehnten betonen Politiker, dass der Wettbewerbsvorteil des Landes nicht auf niedrigen Löhnen beruhen könne. Aber das waren, im Nachhinein betrachtet, Sonntagsreden. In diesem wie schon im letzten Jahr fanden sich die Spitzenverbände der Wirtschaft nur zur Erhöhung des Mindestlohns bereit, nachdem ihnen die Regierung versprochen hatte, sie für einen Teil des Mehraufwands an Sozialabgaben zu entschädigen.
Seit Beginn des Krieges in der Ukraine sind die Preise für Lebensmittel und Sprit auf breiter Front gestiegen. Im Staatsbudget für 2022 gönnt die Regierung den Staatsangestellten aber nur Gehaltserhöhungen um 0,9 Prozent. An diesem ersten Mai forderten die Gewerkschaften zum 1. Juli eine ausserordentliche Erhöhung des Mindestlohns auf 800 Euro, an die aber kaum zu denken sein wird.