Jamil Hilal ist ein solider Wissenschaftler. Der ehemalige Informationsdirektor der PLO in Tunis, der heute für den „Palestinian Human Development Report“ an der Bir-Zeit University arbeitet, hat 2011 beim „Babel Festival“ in Bellinzona einen Vortrag gehalten, in dem er bisherige Mythen zur Regelung des Konflikts mit Israel zerpflückte.
Hatte er 1993 Yasser Arafat scharf angegriffen, weil dieser die asymmetrisch angelegte Prinzipienerklärung unterschrieb, und hatte er 2007 die Zwei-Staaten-Lösung als erledigt bezeichnet, so rechnete er in der Schweiz vor, dass die Siedler in 144 Orten der Westbank ein Fünftel der Gesamtbevölkerung ausmachen. Neuerlichen Requirierungen in der Zone B unter palästinensischer Zivilverwaltung begegnen israelische Instanzen mit der Entschuldigung, sie hätten zu knappe personelle Ressourcen zur Kontrolle solcher Aktivitäten.
Der wunde Punkt
Hilal rührte an einen wunden Punkt der palästinensischen und der internationalen Politik: Je offenkundiger alle Pläne und Verhandlungen zwischen Jerusalem und Ramallah im Sande verlaufen, desto häufiger tritt in palästinensischen Narrativen die Gesamtentwicklung des Konflikts in den Vordergrund. Hilal selbst verweist auf die „schwerwiegende Verzerrung von Geschichte und Geographie“ Palästinas, die 1917 mit der „Balfour Declaration“ und dem britischen Mandat begonnen, 1948 mit der Gründung Israels eine Fortsetzung gefunden und 1967 mit den Folgen der Eroberung Rest-Palästinas geendet habe.
Natürlich würde es leicht fallen, dem Autor an einer zentralen Stelle seiner Argumentation eine erstaunliche Fehlleistung vorzuhalten – bei der Deutung der UNO-Flüchtlingsresolution 194 vom Dezember 1948, die auf arabisches Betreiben hin den Hinweis auf „Israel“ vermied, weil er explizit auf die nationale Anerkennung der „zionistischen Entität“ hinausgelaufen wäre; in den arabischen Hauptstädten war man davon überzeugt, beim nächsten Waffengang die Schmach der Niederlage gründlich zu rächen. Dass die Resolution im Übrigen das Recht auf Rückkehr der Palästinenser an die Bereitschaft zum Frieden mit den Nachbarn knüpfte, sei nur der Ordnung halber hinzugefügt. Viel bedeutsamer waren in Bellinzona zwei Aspekte:
Hilal warf der Autonomieregierung mit ihrem Appell an die Vereinten Nationen, Palästina anzuerkennen – dem geplanten 194. Staat in der Weltorganisation, welch eine zeitgeschichtliche Ironie! –, politischen Selbstbetrug vor, denn Machmud Abbas vertraue darauf, dass Verhandlungen mit Israel letztendlich zur nationalen Souveränität in der Westbank, in Ost-Jerusalem und im Gazastreifen führen würden. Diesem politischen Duktus folgend, besteht Abbas darauf, dass die geplante Einheitsregierung die bisherigen Vereinbarungen mit Israel respektiere, eine Verbeugung vor dem Nahost-Quartett und eine Ohrfeige für den harten Kern bei „Hamas“. Er kann darauf verweisen, dass die israelische „Civil Administration“ in der Westbank gegenwärtig für ein Gesetz wirbt, das die Anlage von Feldwegen für Allradfahrzeuge erleichtern soll. Jedem ist klar, dass diese „dirt roads“ ohne Planungsgenehmigung den Aktionsradius der Siedler erweitern werden.
Hoffnung auf arabische Revelutionen
In dieselbe Kerbe scharfer Abkehr ordnete Hilal die „amerikanische und europäische Dominanz“ ein – die Übernahme der bagatellisierenden israelischen Formel von den palästinensischen Gebieten als „disputed territories“, als ob die Regierung Benjamin Netanjahus nicht längst für politische Eindeutigkeit gesorgt hätte. Dessen ungeachtet beharren die Repräsentanten der Europäischen Union in Jerusalem und in Ramallah auf der Zwei-Staaten-Lösung, mahnen aber eine „aktivere und sichtbare Durchsetzung der EU-Politik“ dringend an.
Hilal schloss mit der vagen Hoffnung, dass die „vom Volk getragenen demokratischen Revolutionen in der arabischen Welt den Weg für einen neuen Nahen Osten“ freimachen würden: mehr Achtung vor der öffentlichen Meinung, mehr wirtschaftliche Unabhängigkeit und mehr Unterstützung für die palästinensische Sache. Solange jedoch die Spitzen in den westlichen Aussenämtern an doppelten Standards in Nahost festhalten und Jerusalems Ablenkungsmanöver im Blick auf das Atomprogramm des Iran goutieren, dürfte für die Diplomaten und Beamten in Berlin und anderswo die grösste Herausforderung darin bestehen, sich in Geduld zu üben, bis der Funke der politischen Erleuchtung auch bei ihren Chefs einkehrt.