Die Publikation ist stattlich und wirkt wie ein trotziger Einspruch gegen den Bedeutungsverlust des Buches: fünf Bände, 3‘781 Seiten, 879 transkribierte und kommentierte Originaldokumente und dahinter eine wissenschaftliche Arbeit, die zwei Editoren während zwanzig Jahren Leidenschaft, Sorgfalt und Geduld abforderte.
Historiker erkennen in den „Rechtsquellen des Kantons Thurgau – 1. Teil: Landeshoheit 1406–1799“ sofort ein hochkarätiges Juwel. Laien, sofern sie die Wälzer überhaupt zur Kenntnis nehmen, mögen die Achseln zucken und sich gelangweilt abwenden. Dem Desinteresse folgt die Selbstbestrafung auf dem Fuss. Sie ist der Sache geschuldet und besteht im Verzicht aufs Erlebnis, den Wandel vom habsburgischen Hoheitsgebiet zum eidgenössischen Kanton bis zur Alltagsnähe nachzuvollziehen. Die Rechtsquellen sind eine spannende und überraschende Erkenntnisquelle.
Ein Jahrhundert-Projekt
Sie setzt fort, was der Historische Verein des Kantons Thurgau bereits im letzten Jahrhundert pionierhaft begann und abschloss, nämlich das achtbändige „Thurgauische Urkundenbuch“, das sämtliche Rechtsdokumente von 724 bis 1400 umfasst.
Das neue von Doris Stöckly und Erich Trösch betreute und eben veröffentlichte Werk ist Teil des seit 1898 laufenden Forschungsunternehmens der „Rechtsquellenstiftung des Schweizerischen Juristenvereins“. Sie sieht ihre Aufgabe darin, die Quellen alten Rechts bis zur Proklamation der Helvetischen Republik 1798 zu erschliessen und kommentiert herauszugeben. Auch nach hundert Bänden ist die Vollständigkeit nicht erreicht.
Der Schweizerische Nationalfonds unterstützt das Vorhaben. Fürs Thurgauer Projekt bewilligten auch der Kanton und der Friedrich-Emil-Welti-Fonds finanzielle Beiträge.
Geschichte mit Tiefenschärfe
Die Quellensammlung macht die Rechtswirklichkeit auf dem Gebiet der heutigen Schweiz vom Mittelalter bis zur frühen Neuzeit sichtbar und erlaubt darüber hinaus fundierte Rückschlüsse auf die historische Entwicklung mit ihren sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Aspekten. Die Verstehbarkeit unserer eigenen Geschichte gewinnt an Tiefenschärfe.
Jeder neue Quellenband ist – oder wäre doch – ein Anfang für die weitergehende und differenzierende Forschung. Kommt sie nicht in Gang, bleiben die erschlossenen Rechtstexte „totes Kapital“.
Das gilt auch für den Thurgau. Es wäre deshalb sehr wünschenswert, den Erkenntnisschatz ans Licht der Öffentlichkeit zu heben und über den Spezialistenkreis hinaus den allgemein Geschichtsinteressierten nahezubringen. Durch eine Kompaktausgabe oder eine Internetversion beispielsweise und mithin günstiger als das 598 Franken teure Gesamtwerk.
Glücksgefühle
Dieses Anliegen ist bei Staatsarchivar André Salathé, der auch den kantonalen Historischen Verein mit Umsicht und einem ausgesprochenen Flair für die Vermittlungsarbeit präsidiert, in guten Händen. Er förderte die Herausgabe der „Rechtsquellen“ nach Kräften und sicherte sich hierfür die politische Unterstützung. Sie besitzt die Chance auf Nachhaltigkeit.
Jedenfalls gestand Regierungsrat Walter Schönholzer bei der Buchpräsentation, er habe bei der Vorablektüre „Glücksgefühle entwickelt“ und sehe einen Bedarf, „neue Zugänge zu den Jahrhunderten zwischen 1400 und 1800 zu finden“. Offenheit und Grosszügigkeit auch hinsichtlich „der Grundlagenforschung in den Geisteswissenschaften“ zeichne den Kanton aus.
Die stattliche Publikation, die wie ein trotziger Einspruch gegen den Bedeutungsverlust des Buches wirkt, könnte tatsächlich den Anspruch erfüllen, ein wirkungsmächtiges Lesebuch zu werden.
Sammlung Schweizerischer Rechtsquellen, XVII. Abteilung: Die Rechtsquellen des Kantons Thurgau, Erster Teil: Landeshoheit, bearbeitet von Doris Stöckly und Erich Trösch. Basel 2017.
Staatsarchiv des Kantons Thurgau, www.staatsarchiv.tg
Rechtsquellenstiftung des Schweizerischen Juristenvereins, www.ssrq-sds-fds.ch