Wer immer es in diesen Tagen wagt, ein Wort über das Entsetzliche zu äussern, das im Nahen Osten seit dem Hamas-Massenmord vom 7. Oktober und dem aktuellen Krieg im Gazastreifen abrollt, muss damit rechnen, entweder als Antisemit oder als Anti-Araber oder als gefühllos abgestempelt zu werden. Jedes Wort sollte auf die Goldwaage gelegt werden – aber auch nicht Gesagtes ist unter Generalverdacht geraten.
Jüdinnen und Juden in der Schweiz sind besorgt und empört wegen antisemitischer Schmierereien und Parolen bei Pro-Palästina-Demonstrationen. Andere empören sich über die Bombardemente der israelischen Truppen in Gaza. Israelische Politiker und Diplomaten kommentierten mit «Schande» eine Resolution der Uno-Vollversammlung, die eine humanitäre Feuerpause (nicht einmal einen Waffenstillstand) gefordert hat. Dass die Delegation der Schweiz der betreffenden Resolution (zusammen mit 120 anderen Ländern) zugestimmt hat, führt jetzt dazu, dass die SVP die Versetzung von Ignazio Cassis weg vom Aussenministerium fordert.
Gegen die Präsidentin der Interreligiösen Arbeitsgemeinschaft, gegen Rifa’at Lenzin, ist eine Absetzungs-Kampagne losgetreten worden. Und als Journalisten bei Studierenden einer Universität eine Umfrage über den Nahost-Konflikt durchführen wollten, stiessen sie, breitflächig, auf Kurz-Antworten des Inhalts, man wolle sich nicht äussern, denn jedes Wort könne zur Stigmatisierung führen: Du bist Antisemit/Antisemitin! Oder umgekehrt: Du hast null Empathie für das unvorstellbare Leid von 2,3 Millionen Menschen im Gazastreifen.
Tief verhockte Ressentiments gegen «die Juden»
Tausende, zehntausende nur schon hierzulande exponieren sich dennoch – und schaue ich mir die im Fernsehen übermittelten und von Zeitungen inhaltlich zusammen gefassten Kundgebungen an (sehr viele mehr pro Palästina als pro Israel), so fällt es mir schwer, eine exakte Trennlinie zu ziehen zwischen Antisemitismus und Kritik am Vorgehen der israelischen Führung jetzt im Gaza-Streifen.
Der Verdacht liegt nahe, dass unterschwellig bei Kundgebungen pro Palästina und den dort skandierten Parolen bei einem Teil der Teilnehmenden tief verhockte Ressentiments gegen «die Juden» vorhanden sind – nachweisen lässt es sich fast nie. Die Mehrheit aber, das ist zu vermuten, geht aus Sorge um das Leben der Zivilbevölkerung in Gaza auf die Strasse, aus Betroffenheit über die Not, die der Krieg über Menschen gebracht hat, die nichts mit den Hamas-Mördern zu tun haben, die sich auch nicht den Gazastreifen (Grösse etwa vergleichbar dem Kanton Schaffhausen) als Lebensraum ausgesucht haben und die jetzt durch Bomben und Panzer aus ihren mehrheitlich schon immer engen und armseligen Behausungen vertrieben worden sind.
Von den Juden «befreien»
Keine Kundgebung, pro Israel oder pro Palästina, kommt ohne Parolen aus. Was sie beinhalten, bleibt oft dem Urteil der Betrachter überlassen. «From the River to the Sea, Palestine will be free», lautet etwa eine bei den Demonstrationen zugunsten der Palästinenser oft benutzte Formel.
Für Israel, auch für die jüdischen Gemeinschaften ausserhalb und somit auch hier in der Schweiz, beinhaltet der Satz, die ganze Region müsse (Analogie zum Sprachgebrauch von Hitlers Nationalsozialisten) «judenfrei» werden, also alle Juden/Jüdinnen würden vertrieben. Palästinenser und Teilnehmer an pro-palästinensischen Kundgebungen argumentieren dagegen, die Parole verlange lediglich, dass das Gebiet zwischen Jordan und Mittelmeer zu einer Demokratie für alle werde, also zu einem Land mit gleichen Rechten für Juden und Palästinenser. Allerdings: Dass die milde Interpretation nicht für jene gilt, die Verständnis für Hamas haben, ist klar, denn Hamas will tatsächlich die ganze Region von Israeli respektive Juden «befreien».
«Schande»
Ein und dieselbe Sprache kann sowohl glasklar als auch ungewiss sein – in Goethes Faust lesen wir: «Mit Worten lässt sich trefflich streiten, mit Worten ein System bereiten. An Worte lässt sich trefflich glauben.» Gilt alles für die jetzt, im Spiegel des Konflikts im Nahen Osten, aufgeheizte Stimmung: Israelische und US-amerikanische Politiker beispielsweise haben Uno-Generalsekretär Guterres vorgeworfen, er habe die Mord-Attacken von Hamas vom 7. Oktober verharmlost, weil er indirekt einen Kontext zwischen dem eben begangenen Verbrechen mit dem politisch-zeitgeschichtlichen Umfeld (Blockierung des Gazastreifens seit 2007, immer mehr israelische Siedlungen, also Kleinstädte, im palästinensischen Westjordanland) hergestellt habe. Daher sei es klar, dass er die Hamas-Massenmord-Attacke verharmlost habe.
Als die Uno-Generalversammlung wenige Tage später mit 121 Ja-Stimmen jene Resolution annahm, die lediglich eine Feuerpause im Gazastreifen verlangte, rief Israels Uno-Botschafter «Schande» und trat am Tag danach mit einer Replika des gelben Judensterns ans Pult.
Auch Biden fordert eine Feuerpause
Dagegen wiederum protestierte in Jerusalem der Verantwortliche für die Yad Vashem Holocaust-Gedenkstätte mit dem Argument, der Botschafter mache ein Zerrbild aus der Geschichte – denn damals, als die Juden in der Zeit von Hitlers Drittem Reich gezwungen waren, den Stern zu tragen, damals sei die jüdische Gemeinschaft schwach gewesen, jetzt aber sei sie stark und man dürfe nicht durch Symbole die eine geschichtliche Phase mit der anderen gleichsetzen.
Weitere Gegenmeinung zu jenen, die sich über die Worte des Uno-Generalsekretärs und über jene Resolution in der Uno-Generalversammlung empörten, die lediglich eine Feuerpause forderte: Erstens habe Guterres völlig zu Recht darauf hingewiesen, dass die Situation in Nahost auch im zeitgeschichtlichen Kontext betrachtet werden müsse – und zweitens entspreche eine Feuerpause (also eine zeitlich begrenzte Unterbrechung der Angriffe Israels im Gazastreifen, welche wenigstens eine Basis-Versorgung der Bevölkerung ermöglichen sollte) ja auch dem, was selbst US-Präsident Biden gefordert habe.
Auf die Solidarität der USA angewiesen
Stimmt – aber der Präsident der Vereinigten Staaten wird nicht mit dem «Schande»-Ruf bedacht. Weshalb? Saloppe Antwort: Weil alle wissen, dass Israel in der internationalen Diplomatie auf die Solidarität der USA angewiesen ist.
Was einmal mehr zeigt, dass mit den gleichen Worten oder um die gleichen Worte, wie Goethe geschrieben hat, «trefflich» gestritten werden kann.
Fazit: Es kommt sehr darauf an, wer welche Worte benutzt, wer sie auf die Goldwaage legen muss und wer allenfalls nicht.
Weltweite Ratlosigkeit
Die Gefahr dieser Streiterei um Worte ist, dass darüber Wesentliches aus dem Blick gerät – vor allem die Frage, wie es in Nahost nach einem Ende des jetzigen Kriegs weitergehen wird. Da herrscht, einen Monat nach der Hamas-Attacke und dem Beginn der Angriffe der israelischen Truppen im Gaza-Streifen, weltweite Ratlosigkeit. US-Präsident Biden und Aussenminister Blinken erwähnen zwar bei jeder Begegnung mit Politikern in Nahost die Zweistaaten-Lösung (ein eigenständiger Palästinenserstaat an der Seite Israels), aber sie müssen längst erkannt haben, dass diese Vision fern jeder Realität ist.
Die Wahrscheinlichkeit, dass alles so weitergehen wird wie in den letzten Jahren, ist gross – nur werden das Misstrauen, die Wut, der Hass der Menschen der einen wie der anderen Seite noch unendlich viel vehementer sein als vor dem 7. Oktober.
Zunehmender Antisemitismus, Stimmung gegen Araber
Und hier, in Europa, da ist zu befürchten, dass sowohl Antisemitismus als auch die Stimmung und das Misstrauen gegen Araber/Araberinnen generell noch weiter zunehmen werden. Es wäre ja schon zu begrüssen, wenn wenigstens einige Persönlichkeiten und Institutionen einem solchen Trend entgegentreten könnten. Aber auch da sieht es nicht gut aus – die bereits kurz erwähnte, am Wochenende publik gewordene Kontroverse um die Präsidentin der Interreligiösen Arbeitsgemeinschaft, Rifa’at Lenzin, beispielsweise, ist ein schlechtes Omen. Da allerdings geht es um Worte, die NICHT auf die Goldwaage gelegt wurden, nämlich um die Verdächtigung, die Islamwissenschafterin Lenzin habe sich nicht gegen Israel-kritische Parolen ausgesprochen, welche in der Gruppe Schweiz-Palästina formuliert worden seien. Etwas Problematisches gesagt habe sie allerdings nicht.
Nun können Persönlichkeiten wie Martine Brunschwig Graf (Präsidentin der Eidgenössischen Kommission gegen Rassismus) noch so glasklar sagen, Frau Lenzin habe sich in den 14 Jahren ihrer Mitgliedschaft in der Kommission immer für die Bekämpfung von Rassismus und Antisemitismus engagiert – nur schon die Tatsache, dass Rifa’at Lenzin auch Mitglied der Gruppe Schweiz-Palästina ist, hat zu Aufrufen geführt, sie müsse nun als Präsidentin des interreligiösen Dialogs zurücktreten.
Streitereien um Worte, die ausgesprochen wurden, Streitereien auch um Worte, die nicht geäussert worden sind – beides befeuert, auch hierzulande, eine ungute Stimmung.