62% für Macron gegen 38% für Le Pen – so lautete das Ergebnis einer Blitzumfrage am Abend des ersten Wahlgangs am 23. April, in dem Marine Le Pen nicht an erster Stelle, sondern um 2,5% hinter dem parteilosen Mitte-links-Kandidaten Emmanuel Macron gelandet war, welcher mit knapp 8,7 Millionen Stimmen eine Million mehr bekommen hatte als die Chefin des Front National. So weit, so gut. Oder doch nicht?
War da was?
Da war eine Kandidatin der extremen Rechten in Frankreich in die entscheidende Stichwahl um das höchste Amt im Staat gekommen, und trotzdem ging so etwas wie ein Aufatmen durch Frankreich, ja durch halb Europa. Eigentlich merkwürdig, oder?
Mit Ausnahme von zwei, drei Tausend jungen Menschen in einigen Grossstädten, wo sich gut organisierte Ultralinke und Anarchisten hinter Gymnasiasten versteckten, ging im ganzen Land kein Mensch mehr auf die Strasse, um zu protestieren. Und selbst diese wenigen empörten sich nicht in erster Linie über Marine Le Pens Einzug in die Stichwahl, sondern nahmen beide Finalisten aufs Korn mit der Devise: „Weder einen Banker noch eine Faschistin“.
Dies ist nur eines von vielen Anzeichen dafür, bis zu welchem Grad die von Marine Le Pen seit 2011 betriebene Entdiabolisierung ihrer rechtsextremen Partei de facto von Erfolg gekrönt ist. Im Lauf der Woche nach dem 1. Wahlgang sollte das sogar noch wesentlich deutlicher werden.
Marine Le Pen, die seit fast zwei Jahren in allen Umfragen als die Favoritin für den ersten Platz gehandelt worden war und deren Umfeld sich bis zu 30% der Stimmen erhofft hatte, musste sich am Abend des 23. April letztlich mit 21,5% zufriedengeben. Daraufhin breitete sich in den Medien und im Land in den 24 Stunden nach der Wahl prompt eine Stimmung aus, als wäre das Rennen um den Élyséepalast bereits gelaufen und Emmanuel Macron, der Newcomer und Senkrechtstarter bereits Frankreichs nächster Präsident.
Schon Präsident
Macron selbst hatte da schon seinen ersten Fehler in der entscheidenden Wahlkampfphase der letzten zwei Wochen begangen. Nicht nur, dass er Hand in Hand mit seiner Frau die Bühne gestürmt hatte und sich von seinen Anhängern feiern liess, als wäre er schon der Präsident. Auch seine viel zu lang geratene und gleichzeitig eher blasse Rede enthielt bereits die Botschaft: Wir haben es geschafft – da war keine Spur von Ärmelaufkrempeln, Endspurt und „Jetzt geht's um alles“.
Dazu begab sich Macron anschliessend im Autokorso und von Motorradkameras verfolgt auch noch in eine traditionsreiche Brasserie am Montparnasse, wo er mit 150 Gästen feierte – auch das schuf den Eindruck, hier sei schon die endgültige Siegesfeier im Gang. Ja schlimmer noch: Auch wenn weder der Ort noch die geladenen Gäste wirklich vergleichbar sind, so erinnerten die Bilder dieses Abends doch jeden in Frankreich an Sarkozys legendäre Siegesfeier 2007 im Fouquet's auf den Champs-Éysées, umgeben von Neureichen und der Crème de la Crème des französischen Börsenindex. Selbst der letzte Anfänger im Kommunikationsgeschäft hätte Macron vor derartigen Bildern warnen und schützen müssen. Und ihm auch sagen müssen: Du musst schon am nächsten Morgen wieder präsent sein und auf Tour gehen. Macron aber blieb am Tag danach so gut wie verschwunden.
Erste Warnungen
Selbst die New York Times läutete schon zwei Tage später die Alarmglocken und gab Macron den brüderlichen Rat, er möge sich nicht allzu siegesgewiss zeigen und jede Spur von Arroganz vermeiden, man habe da jüngst in den USA mit Madame Clinton so seine Erfahrungen gemacht.
In Frankreich selbst war bezeichnend, dass der noch amtierende Staatspräsident Hollande und dessen konservativer Vorgänger Sarkozy als alte Fuhrwerker im Politikgeschäft die allerersten waren, die den 39-jährigen Kandidaten in die Realität zurückholten und ihn daran erinnerten, dass da noch eine Wahl, und zwar die entscheidende, zu gewinnen ist. „Noch nichts ist entschieden, die Stimmen, die muss man sich erobern und verdienen bis zum letzten Augenblick“, knurrte François Hollande schon am Tag nach dem ersten Wahlgang und merkte nebenbei an, die Franzosen seien sich wohl noch nicht wirklich bewusst geworden, dass sich am 23. April die extreme Rechte für die Stichwahl qualifiziert hat und dass dies nach wie vor nichts Gewöhnliches, sondern ein schwerwiegendes Ereignis ist.
Hollandes letzte Taten
Überhaupt, François Hollande. Der scheidende Präsident hat die letzten Wochen seiner Amtszeit, diskret und zugleich doch sehr bestimmt, fast nur auf eines verwendet: den Pilgerstab zu nehmen, quer durch das Land zu ziehen und ganz überwiegend Landstriche aufzusuchen, in denen der Front National bei Wahlen in den letzten Jahren 40 bis 50% der Stimmen geholt hatte, um bei Einweihungen, Fabrik- oder Schulbesuchen, immer und immer wieder, wenn auch meistens beiläufig und verschlüsselt, aber doch sehr nachdrücklich vor der Gefahr Marine Le Pen zu warnen.
Ja Hollande hat es sich auch nicht nehmen lassen, auf seinem letzten EU-Gipfel als Staatspräsident an diesem Wochenende nochmals ausdrücklich und unmissverständlich seine Mitbürger vor einem rechtsextremen Abenteuer zu warnen. Der Pressedienst des Élyséepalastes verschickte, was reichlich ungewöhnlich ist, sogar das Verbatim von Hollandes Brüsseler Pressekonferenz vom Samstag, so als handle es sich um ein Vermächtnis. Ob das letzte Aufbäumen eines glücklosen, ja fast tragischen Präsidenten etwas nützen wird, steht in den Sternen. Hollande jedenfalls will sich später nicht sagen lassen müssen, er habe nicht alles versucht, um vor einer Gefahr für Frankreich zu warnen.
Marine Le Pen unterdessen ...
Marine Le Pen quittiert den Aktivismus des noch amtierenden Staatspräsidenten bestenfalls mit einem Achselzucken. Und wenn nicht, dann gibt sie zu verstehen, das Engagement des Staatspräsidenten für Macron verdeutliche doch nur, was sie schon seit Wochen sage, dass ihr Gegner im Kampf um das Präsidentenamt nichts anderes als ein Klon von François Hollande sei.
Marine Le Pen jedenfalls hat im Wahlkampf nach dem 23. April aus ihrer Sicht bisher alles richtig und kaum Fehler gemacht. Sie hat schon am frühen Morgen nach dem ersten Wahldurchgang alle Register gezogen und seitdem ihrem Gegner absolut nichts geschenkt. Sie setzte gleich zu Anfang dieser entscheidenden zwei Wochen nur noch auf den simplen Gegennsatz: ich, Marine Le Pen, bin an der Seite der Arbeiter und der Armen im Land. Macron, mein Gegner, so ruft sie es Tag für Tag in die Mikrophone, ist der Kandidat der Eliten und der Privilegierten, ein Trader, Freund der Grossbanken und der Finanzmächte, unfähig mit dem arbeitenden Frankreich in einen Dialog zu treten. Sein Programm stehe für Globalisierung, die Oligarchien, die Immigration, sei individualistisch und ultraeuropäisch. Marine Le Pen dagegen gab auf der Bühne, die ihr die fast permanenten Fernsehbilder bieten, ob bei Arbeitern, Fischern oder Bauern, fast tagtäglich die beschützende Mutter, die im Jammertal des Elends die Tränen der Geplagten Frankreichs trocknet.
Selfies mit Streikenden
Dabei scheute sie sich nicht, am Mittwoch dieser Woche einen echten Coup zu landen. Emmanuel Macron war auf Wahlkampf in seiner Heimatstadt Amiens, 100 Kilometer nördlich von Paris, im Departement Somme. Unter anderem traf er sich dort mit dem Betriebsrat des von der Schliessung bedrohten Unternehmens Whirlpool, das seine Produktion nach Polen verlagern wird. 300 Arbeitsplätze stehen auf dem Spiel.
Während Macron in einem Versammlungssaal in der Stadt diskutierte, tauchte plötzlich Marine Le Pen bei den Streikposten vor dem Whirpool-Werk auf und liess sich vor den Kameras von den streikenden Arbeitern – unterstützt von ein paar Front National-Anhängern – feiern. Dutzende Selfies wurden geschossen, darunter eines, auf dem Marine Le Pen neben einer weinenden Arbeiterin, die vor der Entlassung steht, breit in das Smartphone und in die Kameras lacht. Es folgten ein paar Tiraden gegen die Globalisierung, gegen Europa und weg war sie. Marine Le Pens Auftritt dauerte ganze 20 Minuten, aber den Kampf um die Bilder, die haften bleiben, hat sie an diesem Tag mit leichtem Vorteil zu ihren Gunsten entschieden. Denn Emmanuel Macron entschied kurz nach Le Pens Auftritt spontan, sich ebenfalls vor die Fabrik und damit in die Höhle des Löwen zu begeben. Er wurde in der Tat ausgepfiffen und mit „Marine Présidente“-Rufen empfangen, Zeugen sprachen von einer extrem angespannten Situation. Doch Macron schaffte es in einer Dreiviertelstunde, ohne irgendwelche Versprechungen zu machen, eine echte Diskussion mit den Streikenden zu führen und den Werksparkplatz am Ende ohne Buhrufe, wenn auch mit weniger spektakulären Bildern als Marine Le Pen, wieder verlassen zu können. Die Presse verstieg sich am nächsten Tag sogar zu Überschriften wie: „Die Schlacht an der Somme“.
Ein guter Tag für Marine Le Pen
Nach Marine Le Pens relativem Punktsieg gegen Macron in Amiens drei Tage nach dem 1. Wahlgang, folgte 48 Stunden später eine weitere, eine zweite Runde, die noch eindeutiger zu ihren Gunsten ausging. An diesem Freitag, dem 28. April, warteten die Redaktionen in ganz Frankreich ab 10 Uhr auf eine Äusserung des unterlegenen Linksaussen-Kandidaten, Jean-Luc Mélenchon, der mit rund 7 Millionen Wählern immerhin mehr als 19 Prozent der Stimmen erzielt hatte. Mélenchon hatte nicht nur am Wahlabend selbst zum Erstaunen, ja zum Entsetzen vieler, keinerlei Wahlempfehlung für die Stichwahl am 7. Mai abgegeben, sondern war über 4 Tage lang einfach von der Bildfläche verschwunden. Dem notorischen Vielredner hatte es offensichtlich die Sprache verschlagen. Vor 15 Jahren, als Jean-Marie Le Pen in die Stichwahl gekommen war und Mélenchon selbst noch nicht Kandidat war, sondern ein einfacher sozialistischer Senator, hatte er umgehend das Wort ergriffen und, an die linken Wähler gewandt, den seither immer wieder zitierten Satz gesprochen: „Klemmt euch eine Wäscheklammer auf die Nase und zieht Handschuhe an – aber wählt Jacques Chirac gegen Le Pen.“
Warten auf Mélenchon
15 Jahre später – nichts von all dem. Das grosse Schweigen. An diesem Freitag, dem 28. April, sollte er es nun brechen mit einer Ansprache auf seinem Youtube-Kanal. Doch Mélenchon liess auf sich warten.
Dabei hatte Marine Le Pen schon seit Tagen mit dem unverblümten Buhlen um seine sieben Millionen Wähler begonnen und sich dabei nicht einmal gescheut, das Vokabular von Jean-Luc Mélenchon zu übernehmen – etwa das Wort Oligarchen oder das von Mélenchon geprägte Wort „Dégagisme“ – nach dem Motto, die Politikerkaste solle abhauen, im Beppe Grillo-Italienisch: „Vafanculo“. Ausserdem bezeichnete sie ihren Gegner Macron als Vertreter der „France soumise“, des unterworfenen Frankreichs, in Anspielung an den Namen von Mélenchons Bewegung „La France Insoumise“, das unbeugsame Frankreich. Und schliesslich zirkulierten im Internet bereits Flugblätter an die Adresse der Mélenchonwähler, auf denen der Front National mit sieben Beispielen die programmatische Nähe zwischen Mélenchon und Le Pen herauszustreichen versuchte.
Mélenchon liess gewähren und sagte auch am Freitagmittag noch nichts. Also legte Marine Le Pen noch eins drauf. In einem frechen Video auf Twitter wandte sie sich diesmal einfach direkt an Mélenchons Wähler, gratulierte ihnen zum erfolgreichen Wahlkampf und dazu, bei Wahlkundgebungen inzwischen die Rote Fahne durch die Tricolore ersetzt zu haben und die Marseillaise mit viel Innbrunst zu singen, um in dem Satz zu gipfeln, der Ernst der Stunde gebiete es, gemeinsam Emmanuel Macron den Weg in den Élysée zu verstellen.
Drei Stunden später gab sich Mélenchon auf seinem Youtube-Kanal dann endlich die Ehre. Doch zu Marine Le Pen und ihrem Werben um seine Wähler kein Wort. Mélenchon dozierte eine halbe Stunde, um im Grunde wieder nichts zu sagen. Der Satz, dass er nicht Le Pen wählen werde, was doch ohnehin jeder wisse, war schon das höchste der Gefühle. Ansonsten eher wirre Phrasen, was die Zukunft angeht, und die Ahnung, dass sein Schweigen taktische Gründe hat mit Blick auf die kommenden Parlamentswahlen. Die Rolle des Anführers einer neuen Linken im Parlament, von der er offensichtlich träumt, scheint es ihm heute zu verbieten, den Namen Macron auch nur in den Mund zu nehmen und dazu aufzurufen, ihn am 7. Mai zu wählen.
Verantwortungslos
Mélenchon präsentierte sich am Freitag bei seinem Videoauftritt als einer, der sich windet, sich ziert und wie ein Mauerblümchen den Mund nicht aufbekommt, wenn es darum geht, den entscheidenden Satz zu sprechen: Man muss am 7. Mai Macron wählen, um sicher zu sein, dass Frankreich keine rechtsextreme Präsidentin bekommt. Doch dieser Satz kam und kam nicht über die Lippen des ansonsten so wortgewaltigen Volkstribuns. Dabei hat der ehemalige Lehrer, der keine Rede halten kann, ohne die grosse Geschichte Frankreichs und vor allem die französische Revolution zu bemühen, gerade gegenüber der jungen Generation eine enorme Verantwortung. 30% der 18- bis 25-Jährigen haben im 1. Durchgang für ihn gestimmt. Bei diesen Erst- oder Jungwählern den Eindruck aufkommen zu lassen, für ihren Ex - Kandidaten seien Macron oder Le Pen letztlich mehr oder weniger dasselbe, ist schier unerträglich.
Nach Mélenchons kryptischem Youtube-Auftritt am Freitag sagte sich so mancher im Land, der Ex-Trotzkist und ehemalige Philosophielehrer verdiene, bei allem Respekt, im Grunde eigentlich wirklich Prügel dafür, in einem derart historischen Moment nicht unmissverständlich dazu aufzurufen, für Emmanuel Macron zu stimmen.
Vielleicht war es kein Zufall, sondern zum Teil die Quittung für das tagelange, beredte Schweigen und Lavieren des Herrn Mélenchon, dass gegen Ende dieses denkwürdigen Freitags auch noch eine Meinungsumfrage erschien, in der Marine Le Pen erstmals die 40% Marke überschritt. Macron: 59%, Le Pen 41%, stand da schwarz auf weiss.
Unterstützung für Le Pen
Womit der erfolgreiche Freitag für Marine Le Pen aber immer noch nicht zu Ende war. Am Abend ging Nicolas Dupont-Aignan, der Kandidat vom rechten Rand, der mit seiner Bewegung „Das Aufrechte Frankreich“ 1,7 Millionen Stimmen erhalten und damit fast 5% erzielt hatte, ins französische Fernsehen und kündigte an, er werde Marine Le Pen unterstützen, ja er habe mit ihr sogar ein Regierungsprogramm vereinbart. Auf der französischen Rechten schlug diese Nachricht wie eine Bombe ein. Dupont-Aignan, der sich bei jeder Gelegenheit als Gaullist bezeichnet und vor zehn Jahren die konservative Partei – damals UMP – verlassen hatte, um seine europafeindliche Bewegung „France Debout“ („Das aufrechte Frankreich“) zu gründen, hatte noch bis vor wenigen Wochen strikte Distanz zu Le Pen gewahrt und ihr Programm wiederholt als inakzeptabel und gefährlich bezeichnet. Seine 180-Grad-Wende jetzt kommentierten sämtliche Granden der französischen Konservativen als erbärmlichen Verrat, einer gebrauchte sogar das Wort Kollaborateur.
Für Marine Le Pen aber war der Moment in der Tat historisch. Erstmals überhaupt seit Bestehen des Front National erklärt sich eine andere französische Partei öffentlich bereit, ihn zu unterstützen. Sie darf sich des Erfolgs rühmen, dass ihre seit Monaten wiederholten Aufrufe, alle echten Patrioten sollten sich ihr anschliessen, in einem konkreten Fall gefruchtet haben.
Tags darauf schon zeigte sich Marine Le Pen in den Salons eines Pariser Luxushotels Seite an Seite mit Dupont-Aignan, ja präsentierte ihn als ihren künftigen Premierminister, sollte sie denn gewählt werden. Dupont-Aignan bestonte im Gegenzug, er betrachte Marine Le Pen und den Front National nicht als rechtsextrem. Eine Aussage, die einem weiteren und symbolisch wichtigen Meilenstein in der langatmigen Strategie der Entdiabolisierung des Front National gleichkommt.
2002–2017
Bis zu welchem Grad der vor über 40 Jahren von Pétain-Anhängern und Krypto-Faschisten gegründete Front National inzwischen – zumindest oberflächlich – eine Partei wie alle anderen auch geworden ist, lässt sich an einer ganzen Reihe von Ereignissen aus dieser vergangenen Wahlkampfwoche nach dem ersten Durchgang festmachen. Beispiele, die auch zeigen, wie sehr sich Frankreich und seine Wählerschaft in diesen letzten 15 Jahren gewandelt haben.
Marine Le Pen kommt in die Stichwahl und keiner geht hin. Kaum die Spur eines Protestes auf Frankreichs sonst so gerne bevölkerten Strassen gegen den Front National, an dessen DNA, bestehend aus Fremdenfeindlichkeit, Rassismus und Antisemitismus sich im Grunde wenig geändert hat. Eine Woche lang hat es gebraucht, bis 60 Nichtregierungsorganisationen für diesen Sonntag dann doch noch zu einer Demonstration auf dem Pariser Platz der Republik gegen die extreme Rechte aufgerufen haben.
Als Marine Le Pens Vater und Parteigründer, Jean-Marie Le Pen, vor 15 Jahren in die Stichwahl gekommen war, bevölkerten zwei Wochen lang tagtäglich zehntausende Demonstranten Frankreichs Plätze und Strassen, am 1. Mai waren es weit mehr als eine Million im ganzen Land, die ihre Ablehnung des rechtsextremen Kandidaten zum Ausdruck brachten. Aus dieser Bewegung heraus wurde eine ganze Generation von französischen Jungpolitikern geboren, die heute zwischen 30 und 40 Jahre alt sind. Die Bildungsministerin Najad Vallaud-Belkacem zum Beispiel ist eine von ihnen. Zehntausende junger Menschen hatten sich damals spontan als Mitglieder bei der Sozialistischen Partei eingeschrieben.
Und heute? Eine Art nationale Lethargie als Antwort auf die 21,5 Prozent für Marine Le Pen.
Gewerkschaften und katholische Kirche
Nicht einmal Frankreichs Gewerkschaften haben einen einheitlichen Aufruf gegen Marine Le Pen zustande gebracht, geschweige denn eine gemeinsame 1. Mai-Demonstration! Vor 15 Jahren gab es diesen gemeinsamen Aufruf unmittelbar am Tag nach dem 1. Durchgang.
Nicht besser die katholische Kirche. Die Bischofskonferenz hat sich diesmal mit Müh und Not zu einem Kommuniqué durchgerungen, das verwässerter und nichtssagender kaum sein könnte. Vor 15 Jahren hiess es klar und deutlich: Jean-Marie Le Pen und die christlichen Werte sind unvereinbar. Dazu passt, dass an diesem Wochenende auch Papst Franziskus auf dem Rückflug aus Kairo zu den Wahlen in Frankreich keine klaren Worte gefunden hat, Marine Le Pen nur als die harte Rechte bezeichnete und über Emmanuel Macron gar nichts zu sagen wusste. Ein Papst, der über Donald Trump noch unmissverständlich gesagt hatte, einer der Mauern anstatt Brücken bauen will, kann das Christentum nicht für sich in Anspruch nehmen.
Abgesehen vom Überlaufen des europafeindlichen Souveränisten Dupont-Aignan zu Marine Le Pen und dem unverantwortlichen Schweigen des Linksaussenkandidaten Mélenchon, agieren auch mehrere Politiker der konservativen Partei „Les Républicains“ in diesen Tagen nicht eindeutig gegen Marine Le Pen. Einer von ihnen ist der Präsident der Region Rhône-Alpes, Laurent Wauquiez, ein ehrgeiziger, opportunistischer Jungstar der Konservativen, mit langen Zähnen und spitzen Ellbogen, der nach den Wahlen den Parteivorsitz bei „Les Républicains“ anstrebt. Der eindeutige Satz: „Wählt Macron gegen Le Pen“ kam auch ihm nicht über die Lippen.
Zwei Frankreichs
Diese vorletzte Wahlkampfwoche in Frankreich hat eines klar gemacht: Am kommenden Sonntag werden sich wirklich zwei Welten bzw. zwei Weltansichten frontal gegenüberstehen: Hier ein eher urbanes, weltoffenes, europafreundliches, gut ausgebildetes und von der Krise weitgehend verschontes Frankreich, in dem Pessimismus, Zukunftsängste, Wut und Hass etwas weniger verbreitet sind. Dort das periphäre, krisengeschüttelte, verarmte und geplagte Frankreich, das sich von allen verlassen fühlt, in dem der Sozialneid den Alltag beherrscht, das sich einigelt, dem früheren Ruhm des Landes nachtrauert und in Ausländern, Flüchtlingen, im Islam und in der EU die Sündenböcke für die enormen Schwierigkeiten ihres Alltagslebens gefunden hat.
Eines ist dabei jetzt schon sicher: Frankreich wird nach dieser Präsidentschaftswahl gespaltener denn je sein, in zwei zusehends unversöhnliche Hälften.