Ayman al-Sawahiri, Osama bin Ladens Nachfolger als Führer der Al-Kaida, ist zum Verhängnis geworden, dass er tat, was er als gesuchter Terrorist hätte vermeiden sollen. Der Ägypter entwickelte eine alltägliche Gewohnheit: In Kabul sass er frühmorgens gerne allein auf dem Balkon und las.
Als Stratege der Al-Kaida entwickelte Ayman al-Sawahiri das Konzept, erst den «fernen Feind», d. h. die Vereinigten Staaten zu besiegen, bevor es galt, den «nahen Feind», d. h. die pro-westlichen Regime der arabischen Welt zu bekämpfen. Die Terroranschläge von 9/11 in New York und Washington DC setzten das Konzept um. Al-Sawahiri plante den Angriff, Bin Laden finanzierte ihn.
Doch jetzt hat der «ferne Feind» wie 2011 bei der Ermordung Osama bin Ladens in Abbottabbad erneut «über den Horizont» zurückgeschlagen: Zwei von einer US-Drohne abgefeuerte Raketen des Typs Hellfire töteten Al-Sawahiri, als er am vergangenen Sonntagvormittag allein auf dem Balkon eines Hauses im Kabuler Nobelviertel Sherpur sass. Was er laut Erkenntnissen der CIA wiederholt tat – nicht zuletzt, um den Sonnenaufgang über der afghanischen Hauptstadt zu geniessen. Nur das Haus hatte er zuvor nie verlassen. Auf seinen Kopf war eine Prämie von 25 Millionen Dollar ausgesetzt.
Kämpfer der Taliban in Shirpur riegelten nach der Attacke das Quartier ab und liessen keine Medienschaffenden in die nähere Umgebung. Den Taliban kommt die Tötung Al-Sawahiris nicht zustatten, denn sie hatten sich im Februar 2020 im Abkommen von Doha verpflichtet, im Gegenzug für den Abzug westlicher Truppen aus Afghanistan Terrororganisationen wie Al-Kaida keinen Unterschlupf mehr zu gewähren, um das Land als Basis für Angriffe auf den Westen zu benutzen. Noch im Juni warnte ein Uno-Bericht, Al-Kaida erfreue sich seit der Machtübernahme der Taliban im August 2021 in Afghanistan «gesteigerter Aktionsfreiheit».
Keine Kollateralschäden
Ausser dem 71-jährigen Al-Sawahiri ist laut Angaben der USA beim morgendlichen Raketenangriff niemand getötet worden – eine Angabe, die erfahrungsgemäss mit Vorsicht zu geniessen ist, wäre es doch nicht das erste Mal, dass bei einem amerikanischen Drohnenangriff in Afghanistan unbeteiligte Zivilisten ums Leben kommen. Augenzeugen in Kabul wollen aber gesehen haben, wie Al-Sawahiris Frau, seine Tochter und seine Grosskinder, eskortiert von Taliban, das Haus in Shirpur unbehelligt verliessen, um an einen sicheren Ort gebracht zu werden.
Agenten, mutmasslich in Diensten der CIA, erfuhren Anfang April von Indizien, dass Ayman al-Sawahiri und seine Familie ihr Versteck in den Bergen an der afghanisch-pakistanischen Grenze verlassen hatten und mit Hilfe des den Taliban nahestehenden Hakkani-Netzwerks nach Kabul umgezogen waren. In der Folge gelang es der CIA, aufgrund «mehrerer Informationsflüsse» ein sogenanntes «pattern of life» (Verhaltensmuster) der Zielperson zu entwickeln, was den USA wiederum erlaubte, den Raketenangriff präzis zu starten.
Für die CIA war die Ermordung Ayman al-Sawahiris, der dem Londoner «Guardian» zufolge einst auch einen Schweizer Pass besass, eine Art Racheakt. Am 30. Dezember 2009 starben sieben Agenten des US-Geheimdienstes sowie zwei weitere Personen, als sich ein jordanischer Arzt und Doppelagent namens Humam Khalil Abu Mulal al-Balawi, der angeblich Informationen über den verschollenen Terroristenführer besass, Zugang zu einer amerikanischen Basis in Khost verschaffte und sich im Camp selbst in die Luft sprengte. Es war der tödlichste Angriff auf die CIA seit über 25 Jahren.
Rigorose Planung
Präsident Joe Biden war im April über die Erkenntnisse aus Afghanistan informiert und in den folgenden zwei Monaten von einem kleinen Kreis Eingeweihter über den Fortgang der Planung auf dem Laufenden gehalten worden. Es wurde sogar ein Miniaturmodell des Hauses in Shirpur, auf dessen Balkon Al-Zawahiri zu sitzen pflegte, gebaut und am 1. Juli im Situation Room des Weissen Hauses präsentiert. Ingenieure hatten zuvor noch die Statik der geheimen Unterkunft und des Balkons geprüft. Gleichzeitig liess Biden abklären, ob der Angriff auf den Terroristenführer legal war. Juristen der Regierung bestätigten dies.
Nach einem letzten Briefing am 25. Juli gab der US-Präsident grünes Licht für die Attacke – keine Selbstverständlichkeit, denn noch im Mai 2011 hatte sich Biden als Vizepräsident Obamas gegen eine gewagte Kommandoaktion ausgesprochen, die Osama bin Laden im Versteck in Pakistan tötete. «Ich habe diesem Präzisionsangriff zugestimmt, der ihn (Ayman al-Sawahiri) ein für alle Mal vom Schlachtfeld entfernt», sagte Biden im Weissen Haus in einer kurzen Ansprache an die Nation: «Diese Massnahme wurde sorgfältig und rigoros geplant, um das Risiko eines Schadens an anderen Zivilisten zu minimieren.»
Chirurg und Islamist
Amerikas Jagd auf Ayman al-Sawahiri hatte bereits vor 9/11 begonnen. Der Ägypter, Spross einer prominenten Kairoer Familie, hatte als 15-Jähriger eine militante Untergrundzelle gegründet, deren Ziel es war, die säkulare ägyptische Regierung zu stürzen und durch eine islamistische Exekutive zu ersetzen. Nach der Ermordung Anwar as-Sadats wurde ihm 1981 neben Hunderten von Islamisten der Prozess gemacht, doch das dreijährige Verfahren resultierte für ihn am Ende lediglich in einer Verurteilung wegen Besitzes einer Schusswaffe. Im Gefängnis wurde er aber angeblich wiederholt gefoltert, was seinen Hass auf den Staat verstärkte.
Bereits zuvor war der Chirurg ein erstes Mal nach Peshawar in Pakistan gereist, um in einer Klinik des Roten Halbmonds Flüchtlinge und verwundete afghanische Mudschaheddin zu behandeln. Nach einem Umweg über Saudi-Arabien kehrte er 1986 nach Peshawar zurück, wo er Bin Laden traf und dessen Leibarzt und Berater wurde. In Videos, die Al-Kaida damals publizierte, sass der Ägypter jeweils an der Seite des Saudis.
Schwindender Einfluss
1998 verfasste al-Sawahiri ein Manifest mit dem Ziel, alle militanten Islamisten zu vereinen, und fusionierte seine Organisation, den Ägyptischen Islamischen Dschihad, mit Bin Ladens Al-Kaida. «Amerikaner und ihre Alliierten zu töten – Zivilisten wie Soldaten – ist die persönliche Pflicht eines jeden Muslims, der dies in jedem Land tun kann, wo das möglich ist», postulierte das Dokument. Drei Jahre später erfüllten 19 Attentäter al-Sawahiris Forderung an 9/11.
Der Ägypter blieb auch nach der Ermordung Bin Ladens im Visier der amerikanischen Geheimdienste, obwohl sich Experten heute streiten, wie einflussreich er als Führer der Al-Kaida nach dem Aufkommen des Islamischen Staates (IS) noch gewesen ist. Vor zwei Jahren soll al-Sawahiri begonnen haben, sich etwas zurückzuziehen, Essays und Bücher zu schreiben und nur noch gelegentlich in Videos aufzutreten. Allerdings erschien noch im September 2021 auf der Website von Al-Kaida ein Video, in welchem er eine Stunde lang sprach und sich dabei auf aktuelle Ereignisse bezog, um Gerüchten zu widersprechen, er sei bereits tot.
Unveränderte Ziele
Lawrence Wright, Autor des Buches «The Looming Tower», eines Standardwerks über Al-Kaida und 9/11, hält Ayman al-Sawahiris Organisation nach wie vor für gefährlich. «Obwohl Al-Kaida keine andere Attacke unternommen hat, die mit 9/11 vergleichbar wäre, haben sich ihre Ziele nie verändert, ist die Zahl ihrer Mitglieder gewachsen and hat Al-Kaida mit dem Rückzug der USA und derer Alliierter aus Afghanistan ihr Übungsgelände zurückgewonnen. Die Organisation ist erneut eine Kraft, mit der zu rechnen ist. Das verdankt sie grossenteils Zawahiri.»
Quellen: The New York Times, The Washington Post, The New Yorker, The Guardian