Wenn der Kopf weg ist, stirbt der Körper. Läutet das Attentat auf den Al-Kaida-Führer das Ende der Terrororganisation ein, wie einige hoffen? Wenn man sich da nur nicht täuscht.
Muss man sich vor Al-Kaida noch fürchten? Die Terror-Organisation, die am 11. September 2001 die USA in ein nationales Trauma gestürzt hatte, hat in den letzten Jahren an Strahlkraft und Nimbus verloren.
Nach 9/11 begannen die USA den «Krieg gegen den Terror», marschierten in Afghanistan ein und verjagten die Taliban. Doch Osama Bin Laden, der Chef der Kaida, entkam ihnen.
Ab 2003 erhielt die Organisation starke Konkurrenz vom «Islamischen Staat», der sich in Syrien und dem Irak ausbreitete. 2014 rief Abu Bakr al-Baghdadi in weiten Teilen des Irak und Syriens das «Kalifat» aus. Mit bestialischen Aktionen, wie öffentlichen Enthauptungen, deren Bilder ins Internet gestellt wurden, machte der IS auf sich aufmerksam. Immer mehr zog die Organisation junge, gewaltbereite Djihadisten an. Auch aus der Schweiz. Al-Kaida stand immer mehr im Schatten des IS. Die IS-Kämpfer begannen Al-Kaida als «lahme Ente» zu verspotten. Zahlreiche Al-Kaida-Kämpfer wanderten zum IS ab.
2011 wurde Osama Bin Laden in Pakistan von einem amerikanischen Spezialkommando getötet. Ersetzt wurde er durch den früheren ägyptischen Augenarzt Dr. Ayman al-Sawahiri. Er war massgeblich an der Vorbereitung der Attentate am 11. September beteiligt. Doch al-Sawahiri, ein Theoretiker, erlangte nie das Charisma von Bin Laden. Seine langen Video-Botschaften waren zum Gähnen, auch für eingefleischte Islamisten. Die aufpeitschenden Werbespots des «Islamischen Staats» waren attraktiver.
Trotzdem wütete Al-Kaida weiter, wenn auch mit weniger Resonanz. Im Nordwesten Syriens kämpften Hunderte Kaida-Soldaten. Die Al-Shabab in Somalia, eine Filiale von Al-Kaida, mordet wie eh und je. Auch in der Sahelzone und Westafrika ist Al-Kaida präsent. Die im südlichen Jemen kämpfende «Al-Kaida auf der arabischen Halbinsel» hat zwar an Bedeutung verloren, führt aber noch immer Attentate durch. Im Februar wurde in Mali Yahia Djouadi, der Führer der Gruppe «Al-Kaida im islamischen Maghreb» getötet. In Libyen kämpfte Al-Kaida nicht nur gegen den IS. Immer wieder auch bekämpfen sich einzelne Al-Kaida-Gruppen selbst.
Elf Jahre führte al-Sawahiri al-Kaida an. Dann trat der 71-Jährige am vergangenen Sonntag bei Sonnenaufgang auf den Balkon seines Hauses in Kabul. Der Rest der Geschichte ist bekannt.
Was wird nun aus Al-Kaida? Bedeutet Sawahiris Ende den Todesstoss für die einst weltweit gefürchtete Terrorgruppe? Wenig deutet darauf hin.
Der Tod des Al-Kaida-Chefs könnte im Gegenteil der Terrororganisation neues Leben einhauchen. Denn der Langweiler Sawahiri mit seinen tiefgründigen theoretischen Überlegungen war eigentlich ein Bremser. Ihm gelang es nicht, neue Kämpfer zu rekrutieren. Ebenso wenig gelangt es ihm, seinen Terror zu «vermarkten». Seine drögen, schlecht gefilmten Video-Botschaften interessierten niemanden.
Gelingt jetzt einem neuen Mann ein Revival? Kann der Neue der Organisation neues Leben einhauchen? Wir wissen es nicht. Offenbar stehen mehrere draufgängerische Kandidaten zur Auswahl.
Genannt wird oft Saif al-Adel (Kampfname «Schwert der Gerechtigkeit»), ein ehemaliger ägyptischer Kommandant, einer der letzten Überlebenden der «Gründergeneration» von Al-Kaida. Er gilt als Pragmatiker, als «rücksichtslos effizient», ist zupackend und ausgezeichnet vernetzt. Sein Nachteil ist, dass er lange Jahre im schiitischen Iran lebte.
Ein Expertenbericht der Uno erwähnt auch drei weitere mögliche Kandidaten:
- Abdal-Rahman al-Maghrebi ist der marokkanische Schwiegersohn von Sawahiri
- Yazid Mebrak, der Chef von Al-Kaida im Islamischen Maghreb (AQIM) und
- Ahmed Diriye, der Anführer von Shabaab in Somalia.
Wer auch immer neuer Chef wird – er kann auf die Unterstützung der Taliban zählen, die jetzt in Kabul wieder an der Macht sind. Dies, obwohl sie sich im Friedensvertrag mit den USA verpflichtet hatten, Terroristen keine Zuflucht zu gewähren.
Der jetzt getötete Sawahiri wohnte in Kabul in einem Haus, das dem gefürchteten terroristischen Haqqani-Netzwerk gehört. Nach dem Abzug der westlichen Truppen hat Al-Kaida also wieder in Afghanistan eine sichere Bleibe gefunden. Wieder einmal hat sich Amerika über den Tisch ziehen lassen.
Bald schon könnten wir erfahren, wie stark Al-Kaida heute noch ist. Ist die Organisation nach dem Tod Sawahiris in der Lage, blutige Rache zu üben? Das amerikanische Aussenministerium jedenfalls befürchtet Angriffe auf US-Einrichtungen. Washington spricht von einem «erhöhten Potential für anti-amerikanische Gewalt». Die USA erwähnen mögliche «Selbstmordattentate, Attentate, Entführungen, Flugzeugentführungen und Bombenanschläge».
Die Taliban und die Terroristen arbeiten offensichtlich wieder zusammen. Die USA sind wieder dort, wo sie vor dem 11. September 2001 waren. Waren zwanzig Jahre Afghanistan-Krieg umsonst?