In Anbetracht der Diktate der Finanzmärkte wirkt das Politische wie eine grosse Umständlichkeit, die den Zug der Zeit schon lange verpasst hat. Unausgesprochen steht die Frage im Raum: Können wir uns Politik überhaupt noch leisten? Von Freiheit ist schon lange nicht mehr die Rede.
Merkwürdig stumm sind die Politikwissenschaftler und die Intellektuellen. Zu den wenigen Ausnahmen gehört Jürgen Habermas, der in der jetzigen Krise den Anstoss erkennt, mit der demokratischen Willensbildung auf europäischer Ebene voranzukommen. Dazu müssten neue Institutionen geschaffen werden, in denen der öffentliche Diskurs seinen Niederschlag finden soll. Das klingt gut, geht aber an der Problematik vorbei – wie die ganze Diskurstheorie von Jürgen Habermas. Denn Habermas hat immer noch nicht verstanden, dass die von ihm geforderte freie Willensbildung im Rahmen freier Diskussionen ein schönes Ideal darstellt, das mit der Wirklichkeit nichts zu tun hat.
Der grosse Irrtum
Zudem ist es nicht so, dass unsere Gesellschaften keinerlei Erfahrung mit den Institutionen parlamentarischer Demokratie hätten. Dort könnten die von Habermas geforderten Diskurse schon längst stattfinden und ihren Niederschlag in entsprechendem Regierungshandeln und der dazu gehörenden Gesetzgebung finden. Das passiert aber nicht. Entsprechend ist das Ansehen der Politiker auf einem kaum noch zu unterbietenden Tiefpunkt angelangt. Die Bürger fühlen sich von den Politikern nicht repräsentiert, obwohl sie sie wählen.
Der grosse Soziologe Ralf Dahrendorf hat 1995 vorausgesagt, dass der Euro die Europäer spalten, anstatt einen würde: „Die Währungsunion ist ein grosser Irrtum, ein abenteuerliches, waghalsiges und verfehltes Ziel, das Europa nicht eint, sondern spaltet.” An dieser Voraussage ist auch die Tatsache interessant, dass diese Spaltung unabhängig davon ist, wer gerade regiert. Die Dynamik, die mit dem Euro gestartet wurde, verselbständigt sich und verkehrt das angestrebte Ergebnis in sein Gegenteil. Nimmt man die Voraussage Dahrendorfs ernst, und die neuesten Entwicklungen lassen keinen anderen Schluss zu, muss man sagen: Die Politik ist der Zauberlehrling.
Politische Agonie
Ein Zauberlehrling, dem der Besen immer wieder zu erklären versucht, was als Nächstes zu tun sei. Und der auch gleich die Zensuren erteilt: Nur das, was den Finanzmärkten nützt, ist eine gute Politik. Warum? Weil ohne die funktionierende Wirtschaft die Politik nur Schall und Rauch ist. Da ist wirklich „keine Alternative“. Wozu brauchen wir noch Politiker? Wäre es nicht ehrlicher, gleich Kommissare aus der Finanzwelt einzusetzen?
Könnte man nicht auch sagen: Das Ende des Euro ist das Ende der Politik? Und wem das zu abrupt ist: Das quälende Ende des Euro markiert die politische Agonie? Ist die Politik von der Wirtschaft entkernt worden? Viele Fragezeichen auf einmal. Eine eigenständige gestaltende Kraft der Politik zwischen den vielen Fragezeichen ist nicht mehr zu erkennen. Die Politiker erinnern an ein Marionettentheater.
In diesem Wirrwarr lassen sich dennoch Konturen ausmachen. Klar erkennbar ist die schlichte Tatsache, dass die Fortführung der bisherigen Politik zu immer mehr Gewalt führen wird. Die Proteste werden sich steigern, entsprechend müssen die repressiven Apparate gestärkt werden. Die neuen Beschlüsse zur Schuldenbremse lassen sich auch so lesen: Keine einzelne Regierung kann derartige Sparmassnahmen durchsetzen. Also braucht es eine Superregierung beziehungsweise Apparate der übernationalen Justiz. Übernational kann dann lokal das durchgedrückt werden, was regional sofort scheitern würde. Und niemand ist mehr verantwortlich.
Der Einzug der Piraten
Was können die Politiker oben für das, was unten geschieht? Und was können die Politiker unten für das, was die Politiker oben beschliessen und durchsetzen? Dieses schäbige Ende politischer Gestaltung ist nah, aber schon jetzt lassen sich neue Muster erkennen. Die wirken, wie sollte es anders sein, anarchisch. So hat in Deutschland die Piratenpartei den Einzug in das Berliner Abgeordnetenhaus geschafft. Das sind Leute ohne jede politische Erfahrung, ohne persönliche Bekanntheit und ohne jedes Programm. Einfach so. Auch bundesweit haben sie in Umfragen Ergebnisse, die die im Orkus verschwindende FDP vor Neid erblassen lässt.
Die Piratenpartei signalisiert: Es geht nicht mehr so weiter. Selbst kein Programm ist besser als das, was auf dem politischen Spielplan der etablierten Parteien steht. Aber es geht noch viel bunter. Dazu eine Bemerkung: Man darf annehmen, dass die Frankfurter Allgemeine Zeitung immer noch das Organ des gehobenen Bürgertums in Deutschland ist. Eine solche Zeitung erscheint nicht ohne sorgfältige Überlegung. Wenn in ihr ein heftiger Wind weht, machen die Redakteure auf Stürme aufmerksam.
"Der Krieg der Banken gegen das Volk"
Gleich zweimal hintereinander kam der amerikanische Wirtschaftswissenschaftler Michael Hudson zu Wort. (1) Er war der Erste, der in Amerika das Platzen der Immobilienblase exakt vorhergesagt hatte, und jetzt wartet er mit folgender Überlegung auf: Die Schuldenproblematik ist so alt wie die uns bekannten Hochkulturen, und sie läuft immer nach demselben Muster ab. Kulturen verschulden sich, und irgendwann können sie nicht mehr zahlen. Diese Zahlungsunfähigkeit führt zum Ruin der Kaiser und Könige, oder der Völker, es sei denn, die Gläubiger werden zum Teufel gejagt. Es kommt also immer wieder zu Schuldenschnitten, aber stets um den Preis, dass das Untere nach oben gekehrt, also mit den Schulden auch die bisherige Ordnung vernichtet wird.
Der Kern des Gedankens in der FAZ im Lead zusammengefasst: „Die Weltgeschichte beweist: Interessen von Gläubigern sind nicht die der Demokratie. Bankenrettungen führen in die Oligarchie.“ Der Finanzsektor betreibt, wie Hudson darlegt, einen "Krieg gegen das Volk". In den Schulden selbst steckt ein Unrecht, das in der Geschichte gerächt wird. Der Preis ist hoch: Der Schuldenschnitt kostet die bisherige Ordnung. Nichts weniger hat die FAZ direkt hintereinander ihren Lesern im Feuilleton mitgeteilt. Die waren nicht unvorbereitet. Hatte doch der massgebliche Herausgeber und Journalist mit der Spürnase für den Geist der Zeit schon Wochen vorher in Anlehnung an den „erzkonservativen Charles Moore“ die Frage gestellt, ob es nicht ein grosser Fehler gewesen sei, den Parolen der neoliberalen Ideologen zu folgen. Wäre linke Politik nicht doch näher an der Realität? (2)
Den gordischen Knoten durchschlagen
War das ein Ausrutscher? Überhaupt nicht. In der Ausgabe vom 8. Dezember 2011 wartete die FAZ mit einer Autorin auf, die sie früher wie die „DDR“ nur in Anführungszeichen gesetzt hätte: Sahra Wagenknecht. Neuerdings ist sie stellvertretende Parteivorsitzende der „Linken“ - der ehemaligen STASI-PDS, wie die FAZ nie müde wurde zu wiederholen. In ihrem Beitrag „Schluss mit Mephistos Umverteilung!“ argumentierte Wagenknecht – wie übrigens schon vorher in der FAZ vom 23. November 2011 Albrecht Müller in „Die Lüge von der Systemrelevanz“ -, dass es Zeit für die Politik wäre, endlich den gordischen Knoten der Finanzimperatoren zu durchschlagen und endlich wieder den Primat des staatlichen Interesses zur Geltung zu bringen.
Der Primat der Politik also. Aber es ist völlig klar, dass dieser Primat neu verortet werden muss. Keiner weiss, wo. Wer ist der Träger der neuen politischen Orientierung? Das lässt sich noch nicht sagen. Als Mitte der 80er Jahre die Grünen auftauchten, waren sie die Schmuddelkinder. In der Main-Stream-Presse hatten sie keine Chance. Heute sind sie in jeder Weise älter als die FDP – wer wollte auf ihre staatstragenden Repräsentanten in Nachrichtensendungen und Talkshows verzichten? Rebellen wie die Piratenpartei, Oppositionelle wie Sahra Wagenknecht oder der Ökonom Michael Hudson finden jetzt bürgerliche Plattformen. Ist das die Diskursgemeinschaft, von der Jürgen Habermas seit 50 Jahren fabuliert? Dafür ist die Not zu gross. Die Realität ist kein Seminar. Denn es steht zu befürchten, dass die Wiederkehr der Politik alles andere als friedlich sein wird.
(1) Was sind Schulden?, FAZ, 2. Dezember 2011; Der Krieg der Banken gegen das Volk, Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 4. Dezember 2011
(2) „Ich beginne zu glauben, dass die Linke recht hat“, FAZ 15. August 2011