Monatelang hatte es in Frankreichs Nachbar- und Partnerländern getönt, die Präsidentschaftswahl 2017 sei die Schicksalswahl für Europa schlechthin. Landauf, landab klangen die Überschriften, als stünde Marine Le Pen tatsächlich kurz vor der Machtübernahme. Für viele zwischen London und Rom, Madrid und Wien schien ausgemacht, dass nach Trump und Brexit in Frankreich jetzt zwangsläufig Marine Le Pen folgen müsste. Hinweise, wonach zwischen amerikanischem und französischem Wahlsystem gewichtige Unterschiede bestehen und auch deswegen die Wahrscheinlichkeit eines Wahlsiegs von Le Pen stets gegen Null tendierte, waren in der allgemeinen Aufregung fast völlig untergegangen.
Deutsche Unterstützung?
Dann gewinnt Emmanuel Macron aber die Wahl, hält die extreme Rechte mit immerhin historisch hohen 34% noch einmal für mindestens 5 Jahre im Zaum, und was passiert keine 48 Stunden später in den ach so besorgten Partnerländern und vor allem in Deutschland? Die Oberlehrer kriechen wieder aus ihren Löchern, machen die alten Milchmädchenrechnungen auf und erheben den Zeigefinger mit der Weisung, auch unter dem smarten neuen Hoffnungsträger solle Frankreich gefälligst erst mal seine Hausaufgaben machen. Den Vogel schoss dabei das Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“ ab, welches in seiner langen Geschichte Frankreich im Grunde nie leiden konnte, ja stets mehr oder weniger verachtet und von sehr weit oben herab behandelt hat. Als Willkommensgruss begab sich das Blatt fast auf das Niveau der „Bildzeitung“ mit dem unwürdigen Titel: „Der teure Freund – Emmanuel Macron will Europa retten und Deutschland soll zahlen.“
Geballte Europa-Kompetenz
Da hat einer das fast Unmögliche geschafft und gegen den Trend der Zeit und erstmals seit Mitterrand 1981 mit einem offensiv, ja fast provokativ pro-europäischen Kurs in diesem pessimistischen, ja fast verbiesterten Frankreich eine Präsidentschaftswahl gewonnen und bekommt dafür eine derartige Breitseite?
Dabei hatte Macron noch fast nichts gesagt und noch nicht das Geringste getan. Es sei denn, dass er sich–- wie das in Frankreich noch absolut nie der Fall war – gleich mit einem halben Dutzend perfekt Deutsch sprechenden EU-Spezialisten und Deutschlandkennern umgeben hat: Premierminister Edouard Philippe hat in der damaligen Bundeshauptstadt Bonn am Rhein sein Abitur gemacht. Neben ihm beherrschen sowohl Wirtschaftsminister Le Maire als auch Verteidigungsministerin Goulard die Sprache Goethes, wie man in Frankreich so gerne sagt, perfekt. Dasselbe gilt für den mächtigen aussenpolitischen Berater im Élysée, Philippe Etienne, die letzten vier Jahre Botschafter in Berlin, davor Jahre lang bei der EU in Brüssel und schliesslich für Sylvain Fort, den neuen Chef der Kommunikationsabteilung im Élysée. Mehr geballte Kompetenz anbieten und stärkere Signale aussenden kann die neue Mannschaft in Paris eigentlich nicht, um zu verdeutlichen, dass es einem ernst ist mit einer wirklichen Neubelebung des deutsch-französischen Motors und dem Versuch, sich gemeinsam an die unerlässlichen Reformen in der EU zu machen, wenn man will, dass Europa überlebt.
Pest oder Cholera
Eines der unrühmlichsten Kapitel dieser jüngsten Präsidentschaftswahl, das nicht so schnell in Vergessenheit geraten sollte, war das Zögern und Lavieren eines beachtlichen Teils der französischen Linken zwischen den beiden Wahlgängen rund um die Frage, die sich eigentlich nicht hätte stellen dürfen und die da lautete: Soll man, muss man in der Stichwahl Emmanuel Macron wählen, um Marine Le Pen zu verhindern?
Bei der Antwort auf diese Frage haben sich, neben dem Kandidaten der radikalen Linken, Jean-Luc Mélenchon, der jede eindeutige Antwort darauf verweigerte, besonders eine ganze Reihe von Intellektuellen wahrlich nicht mit Ruhm bekleckert. Sie taten tatsächlich so, als würde man gerade zu einem völlig beliebigen Zeitpunkt, weitab von den Präsidentschaftswahlen, über die unheilvollen Auswirkungen von neoliberaler Wirtschaftspolitik diskutieren oder über die Gründe für das Erstarken der extremen Rechten in weiten Teilen Europas, und als stünde mit Marine Le Pen da nicht jemand vor der Tür, der mit einem ultranationalistischen und fremdenfeindlichen Programm mit rassistischen Untertönen nach der Macht greifen will und während des Wahlkampfs wiederholt, mit Drohungen gegenüber der Justiz, der Presse und dem französischen Beamtenapparat auch deutlich gemacht hatte, was sie von den Grundfreiheiten hält und was ihr die Werte der Aufklärung wert sind.
„Neoliberale Erpressung“
Der erste unter den illustren Denkern, der von vielen Seiten hofierte Philosoph Slavoy Zizek, meldete sich aus dem Ausland zu Wort. In einem Gastbeitrag in der britischen Zeitung „Independent“ schrieb er im April, dass es zwischen Macron und Le Pen „keine wirkliche Wahl“ gäbe. Die Aufrufe, sich hinter Frankreichs Ex-Wirtschaftsminister zu versammeln, seien lediglich „neoliberale Erpressung“.
Und als würde das noch nicht reichen, hat er Ähnliches jüngst bei einem Vortrag im Rahmen der Wiener Festwochen nochmals zum Besten gegeben. Frankreichs neuer Präsident Emmanuel Macron, so Zizek, sei der Vertreter jener Politik, welche die Entstehung von Marine Le Pen & Co erst herbeigeführt habe und Macron sei das „Establishment in seiner reinsten Form“.
Alles schön und gut und durchaus diskutierenswert, aber was bitte sollten derartige Phrasen den französischen Wählern sagen, kurz vor der entscheidenden Stichwahl oder auch jetzt, wenige Wochen danach? Hätte man es darauf ankommen lassen sollen?
Heute Macron, morgen Le Pen
Diese Frage muss sich auch der Soziologe Didier Eribon stellen lassen, der mit seinem autobiographisch inspiriertem Werk „Die Rückkehr nach Reims“ – neun Jahre nachdem es in Frankreich unter nicht allzu grosser Beachtung erschienen war – in deutschsprachigen Ländern in den letzten Monaten einen immensen Bucherfolg gefeiert hat. Aus persönlicher Erfahrung schildert er die seit zwei Jahrzehnten hinlänglich bekannte Entwicklung, wie die einst traditionell kommunistische oder sozialistische Wählerschaft vor allem in den Arbeiterregionen Frankreichs scharenweise zum Front National übergelaufen ist.
Monsieur Eribon hatte im April in einem Gastbeitrag für die „Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung“ folgenden Satz zum Besten gegeben : „Wenn Macron im Mai zum Präsidenten gewählt wird, dann bekommt Le Pen beim ersten Wahlgang in fünf Jahren wahrscheinlich über 40 Prozent. Dynamisch gesehen wählt man also mit Macron schon heute Le Pen.”
Auf einer Lesereise in München sah er sich dann bemüssigt klarzustellen, dass er persönlich in der Stichwahl am 7. Mai nicht Emmanuel Macron wählen, sondern einen leeren Stimmzettel abgeben wird. Und er begründete dies nochmals mit dem umwerfenden Argument: „Wer Marine Le Pen wählt, wählt Marine Le Pen jetzt. Wer Macron wählt, wählt Marine Le Pen in vier Jahren.“
Ja und? Abgesehen davon, dass es hätte heissen müssen: „… in fünf Jahren“ – ging es in diesen Apriltagen 2017 in Frankreich wirklich darum? War das im Ernst die Frage, die sich ein französischer Wähler Ende April zu stellen hatte? Hätte man Marine Le Pen also sofort wählen sollen? Braucht es einen Star-Philosophen und einen in Frankreich und den USA bestens vernetzten Soziologen, um derartige Weisheiten mit auf den Weg zu bekommen? Und wo, bitte, wäre die Alternative gewesen?
Zynische Selbstgerechtigkeit
Zizek, Eribon und Konsorten sollten vielleicht mal die ganz einfache Tatsache zur Kenntnis nehmen, dass die gesamte Linke in Frankreich derzeit maximal 30 Prozent der Stimmen wiegt – in Buchstaben: dreissig! Das wäre doch ein konkreter Ausgangspunkt für weitergehende Reflexionen. Zu gestikulieren und zu beteuern, zwischen Macron oder Le Pen gäbe es keinen wirklichen Unterschied und vor dem 1. Wahlgang glauben zu machen, ein Herr Mélenchon könnte Frankreich vor Le Pen retten, hilft da nicht wesentlich weiter.
Auch Emmanuel Todd muss sich das sagen lassen. Der Historiker, der in der Vergangenheit durch weit vorausschauende Essays über das Ende der Sowjetunion oder das Ende der absoluten Hegemonie der USA unmittelbar nach dem 11. September aufgefallen war, hat sich vor der Stichwahl am 7. Mai nicht entblödet, mit der krumm formulierten Twitterbotschaft aufzuwarten, die da lautete: „Es gibt beim Inakzeptablen keine Hierarchie zwischen Le Pen und Macron, zwischen der Fremdenfeindlichkeit und der Unterwerfung unter die Banken” – einfach gesagt: Le Pen und Macron sind gleichermassen inakzeptabel, die eine macht gegen Ausländer Stimmung, der andere ist der Vasall der Finanzwelt, beides ist gleich schlimm.
Was ist das? Purer Zynismus, intellektuelle Selbstbefriedigung, politischer Analphabetismus, masslose Selbstgerechtigkeit im berühmten Elfenbeinturm?
Régis Debray und Alain Finkielkraut
Doch selbst ein Régis Debray, der einst die Nähe zu Castro und Che Guevara suchte und Salvador Allende hofierte, der später, als junger, alter Vater seinen Sohn in der Kirche Saint Sulpice taufen liess und nebenbei vor wenigen Jahren auch ein Plädoyer für die Grenzen schlechthin hingelegt hat, weigerte sich wenige Tage vor der Stichwahl in einem „Le Monde“-Interview, zur Wahl von Macron gegen Le Pen aufzurufen. Er legte dafür aber in aller Breite dar, warum Macron in seinen Augen ein Amerikaner ist ...
Und auch der mittlerweile zum Mitglied der Académie Française avancierte Philosoph Alain Finkielkraut – geradezu besessen von der Frage der französischen Identität, die von allen Seiten und besonders vom Islam untergraben werde – machte sich gleich mehrere Knoten in sein Hirn bei der Frage, was zu tun sei bei der Stichwahl am 7. Mai, bevor er sich am Ende eines Interviews dann doch zu dem minimalen Satz hinreissen liess: „Ja, ich werde wohl gezwungen sein, für Emmanuel Macron zu stimmen.“
War da nicht was?
Fünf Intellektuelle – und keiner von ihnen erinnerte sich in diesem Monat April 2017 an die 30-er Jahre? Da war das unwürdige Verhalten des Linksaussenkandidaten Mélenchon mit seinen 19,58% Wählerstimmen aus dem 1. Durchgang, der sich weigerte, klar und deutlich zu sagen: Wählt in der Stichwahl Macron, damit Le Pen mit Sicherheit verliert und am Ende auf jeden Fall möglichst wenig Stimmen erzielt.
Hat angesichts des zaudernden Volkstribuns Mélenchon da keiner an die Komintern, an die deutschen und französischen Kommunisten in den 30-er Jahren gedacht, als ihnen angesichts des heraufziehenden Faschismus und Nationalsozialismus nichts Besseres eingefallen war, als Sozialisten und Sozialdemokraten als „Sozialfaschisten“ oder „Social-Traitres“ zu verunglimpfen? Das Resultat dieser hirnverbrannten Strategie ist doch wohl hinlänglich bekannt, oder?
Würde sich der eine oder andere der oben zitierten Herren einmal aus dem 6. Pariser Arrondissement wegbewegen und an den Tresen eines ganz normalen Bistrots stellen, könnte er dort schon seit Wochen und bis zum Überdruss den immer wieder geäusserten Satz hören: „Wenn Macron es jetzt nicht schafft und es ihm nicht gelingt, die Dinge zu bewegen, dann haben wir Marine Le Pen eben in 5 Jahren.“
Knallhart und ohne grosse Illusionen sagen die Leute das. Doch zu 66% haben sie sich am 7. Mai erst mal für das deutlich kleinere Übel entschieden und nicht auf die gehört, die da zu verstehen gaben, sie hätten nur die Wahl zwischen Pest und Cholera.