Persönliche Rechtfertigung oder glatte Wahrheit? Wenn ein Politiker ein Buch schreibt, das den Titel trägt „Die ganze Geschichte. Meine Auseinandersetzung mit Europas Establishment“ (1), dann ist wohl beides dabei: die subjektive, aber nicht ganz unberechtigte Sicht des Autors und, zum Teil wenigstens, ein Stück der „objektiven“ Wahrheit, wenn es denn eine solche gibt.
Deutliche Worte
Yanis Varoufakis, im Jahr 2015 für einige Monate griechischer Finanzminister, ist ein wort- und schreibgewaltiger Autor, der es an deutlichen Worten über die Beziehungen seines krisengeschüttelten Landes mit den, wie er es sieht, überaus selbstgerechten Oberen der EU nicht mangeln lässt.
Ein Teil des Problems, wenn nicht überhaupt der Kern der fast epischen Saga, liegt in der Auseinandersetzung eines Linken, wie Varoufakis einer ist, mit zum Beispiel einem Mann wie dem damaligen deutschen Finanzminister Wolfgang Schäuble, einem durch und durch Konservativen, der noch dazu aus Baden-Württemberg kommt, dem Heimatland der Sparer und Wohlstandshüter.
Deftiger Inhalt
Dass sich die „Dramatis Personae“ alle duzen, hat zwar einen gewissen persönlichen Charme, tut aber der Tragödie keinen Abbruch. Varoufakis würzt seine Erzählung ordentlich mit Zitaten aus Shakespeares Othello und Macbeth – das gibt der oft eher nur für Finanzexperten ganz verständlichen Lektüre eine scharfe Würze. Aber auch der Inhalt ist deftig. So würdigte der britische Guardian die englische Ausgabe mit den Worten, Varoufakis liefere eine „präzise, detaillierte Beschreibung moderner Macht“.
Also: Da steht das mächtige Europa, eingebunden in die Troika aus Internationalem Währungsfonds, Europäischer Kommission und Europäischer Zentralbank dem, wie Varoufakis unumwunden zugibt, bankrotten Griechenland gegenüber. Der Autor schreibt: „Griechenlands endemische Unterentwicklung, Korruption und Missmanagement erklären seine chronische wirtschaftliche Schwäche.“ So weit so richtig.
Griechenlands Bilanzfälschung
Aber damit lässt es der Finanzexperte und Linke nicht bewenden. Er fügt hinzu, was Wolfgang Schäuble und Partner selbstverständlich ganz anders sehen: Griechenlands Insolvenz hänge mit „fundamentalen Fehlern in der Konstruktion der EU und ihrer Währungsunion, dem Euro, zusammen“. „Die EU begann als ein Kartell grosser Unternehmen, das den Wettbewerb in der mitteleuropäischen Schwerindustrie begrenzen und in peripheren Ländern wie Italien und Griechenland Absatzmärkte sichern sollte.“
Nun ja, da geht die linke Sicht der Dinge ein wenig mit dem Autor durch. Varoufakis verschweigt nämlich, dass bei der durch Robert Schumann und Konrad Adenauer 1951 gegründeten Montanunion neben Frankreich, Deutschland, Belgien, Luxemburg eben auch Italien beteiligt war. Und dass diese Montanunion als ein erster Schritt zu einem einst vereinigten Europa gedacht war.
Richtig allerdings ist, dass Griechenland lange Zeit seine Schwäche durch Abwertung der Drachme ein wenig ausgleichen konnte. Das änderte sich mit der Einführung des Euro im Jahre 2001. Dass das Land überhaupt in die Eurozone aufgenommen wurde, verdankt es einer groben Fälschung seiner Staatsbilanzen und der Gutgläubigkeit der anderen europäischen Staaten. Die Fehlentscheidung hat der damalige deutsche Finanzminister Hans Eichel dann mit den Worten verbrämt, nun sei Griechenland, wo die Wiege der europäischen Demokratie stehe, wieder vollständig ein Teil der europäischen Familie.
Zinsen mit Schulden zahlen
Was in Griechenland wirklich geschah und noch geschieht, hat der Autor Fabian Schneider in seinem überaus lesenswerten Buch „Chaos“ (2) beschrieben: „In Griechenland zerstörten Europäische Zentralbank, EU-Kommission und IWF mit massiver Unterstützung der Bundesregierung gezielt die erste Syriza-Regierung, die der verheerenden Kürzungspolitik etwas entgegenzusetzen versuchte.“
Dass Griechenland, wie auch andere Länder, seine Schulden niemals ganz zurückzahlen werde, sagt Varoufakis klar und deutlich: „Tatsächlich prolongieren sie (die Schulden, Anm. d. Autors), das heisst, sie schieben die Tilgung unbegrenzt hinaus und bezahlen nur die Zinsen. Solange sie das können, sind sie solvent.“
Und wie kommt es zu so viel Schulden, warum leihen Banken so viel Geld an einen an und für sich schon insolventen Schuldner wie Griechenland ? Varoufakis hat ein vernichtendes Urteil:
„Türme der Inkompetenz“
Die europäischen Banken wurden in den Jahren vor 2008 so grauenhaft schlecht geführt, dass die hirnlosen Banker der Wall Street dagegen geradezu gut aussehen. Als die Krise ausbrach, standen die französischen, deutschen, niederländischen und britischen Banken mit über 30 Billionen Dollar im Risiko, mehr als das Doppelte des BIP der Vereinigten Staaten und mehr als das Achtfache des BIP von Deutschland.
An anderer Stelle schreibt Varoufakis in Anspielung auf die Frankfurter Banktürme der Deutscher Bank und der Commerzbank von „Türmen der finanziellen Inkompetenz“.
Und, was bereits bekannt ist, bestätigt Varoufakis in klaren Worten: Sobald die Rettungskredite beim griechischen Finanzministerium ankamen, begann die Operation „Befreiungsschlag“: Das Geld wurde umgehend an die französischen und deutschen Banken zurückgeleitet.
Konflikt mit Schäuble
Um diese Wahrheit ein wenig vor einer breiten Öffentlichkeit zu verschleiern, griffen die Verantwortlichen zu kleineren oder auch grösseren Notlügen. Der Autor zitiert den Vorsitzenden der EU-Kommission, Jean-Claude Juncker. Dieser habe einst gesagt, wenn es ernst werde, dann „müssen Sie lügen“.
Dass sich Varoufakis oft mit Wolfgang Schäuble anlegte, kann niemanden überraschen. Hinter dem nur scheinbar Vertrauen erweckenden „Du“, mit dem sich beide ansprachen, verbargen sich fundamentale Gegensätze. Varoufakis berichtet, er sei schockiert gewesen, wie leichthin Schäuble sich anscheinend für die Auflösung der Eurozone ausgesprochen habe. Varoufakis zu Schäuble:
„Glaubst Du wirklich, dass Du die dämonischen Kräfte kontrollieren kannst, die ein Grexit freisetzen würde ? Niemand kann sie kontrollieren. Es wäre ein Irrtum von historischen Dimensionen.“
Darauf Schäuble: „Dann nenn’ es nicht Grexit. Ihr müsst es euch nicht als Grexit vorstellen. Denkt lieber, es wäre eine Auszeit.“
Dann, im Verlauf des Gespräches, lieferte Schäuble eine Überraschung. Schäuble zu Varoufakis:
„In der Eurozone bist du wahrscheinlich der Einzige, der versteht, dass die Eurozone nicht nachhaltig ist. Die Eurozone ist falsch konstruiert. Wir bräuchten eine politische Union, daran besteht kein Zweifel.“
Vorsichtige eiserne Kanzlerin
Mit Angela Merkel geht Yanis Varoufakis herb ins Gericht. Als im Jahre 2008 die Banken an der Wallstreet bereits ins Wanken geraten waren, „pflegte Angela Merkel ihr Image als knauserige, finanziell sehr vorsichtige eiserne Kanzlerin“. Auf die „verschwenderischen Banker der Anglosphäre“ habe sie „moralisierend mit dem Finger“ gezeigt. Und in einer Rede in Stuttgart habe Merkel gerügt, die „amerikanischen Banker hätten sich bei einer schwäbischen Hausfrau Rat holen sollen“, diese hätte „ihnen einiges über den Umgang mit Geld erzählen können“.
Der belesene Varoufakis vergleicht Merkel mit Shakespeares Othello, der nichts von Desdemonas Vergehen gewusst habe. Übertragen auf Merkel, aus Sicht des ironisch schreibenden Varoufakis: „Man stelle sich ihr Entsetzen vor, als sie wenig später lauter aufgeregte Telefonanrufe von ihrem Finanzminister, ihrer Zentralbank und ihren Wirtschaftsberatern erhielt, alle mit der gleichen unfassbaren Botschaft:
Frau Bundeskanzlerin, auch unsere Banken sind bankrott! Damit ihre Geldautomaten weiter Geld ausspucken, brauchen wir eine Geldspritze in Höhe von 406 Milliarden Euro von der schwäbischen Haufrau – möglichst gestern.“
Ungleiche Haftung
An anderer Stelle beschreibt Varoufakis, wie auf kaschierten Umwegen verhindert wurde, dass EU-Kredite an Griechenland nicht als EU-Kredite in Erscheinung traten. Denn nach den einschlägigen gültigen EU-Verträgen ist es Brüssel untersagt, die Schulden anderer Staaten zu begleichen. Zunächst habe man den IWF an Bord geholt, der infolgedessen eine seiner Maximen verletzt habe, nämlich bankrotten Staaten kein Geld zu leihen, ohne dass diese vom IWF verordnete neoliberale Reformen auf den Weg gebracht haben. Deshalb seien die Kredite nicht als EU-Kredite vergeben worden, sondern auf die einzelnen Staaten verteilt worden, so dass die geldgebenden Staaten jeweils bilateral mit Griechenland Kreditverträge geschlossen hätten. Dabei sei eine Konstruktion herausgekommen, bei der Deutschland bei jedem 1000-Euro-Kredit für 270 Euro hafte, Frankreich für 200 Euro und die „kleineren, ärmeren Länder für die restlichen 530 Euro“.
Varoufakis kommentiert diese Konstruktion ironisch: „Das war das Schöne an der Griechenlandrettung, zumindest für Frankreich und Deutschland: Sie verteilte den grössten Teil der Last, die französischen und deutschen Banken zu retten, auf die Steuerzahler von Ländern, die noch ärmer waren als Griechenland, wie etwa Portugal und die Slowakei.“
Das Buch von Yanis Varoufakis ist voll von solchen Episoden. Seine europäischen „Partner“ – wenn man diesen Ausdruck nach der Lektüre noch verwenden will – werden vieles anders sehen. Inzwischen hat die Syriza-Regierung, der Varoufakis einst angehörte, das finanzielle Diktat der „Troika“, der „Institutionen“, wie die Griechen später sagten, voll akzeptiert. Die Griechen leiden weiter. Und seine Schulden wird Griechenland niemals voll zurückzahlen können. Wie reichere europäische Länder auch.
(1) Yanis Varoufakis: Die ganze Geschichte. Meine Auseinandersetzung mit Europas Establishment. Aus dem Englischen von Anne Emmert, Ursel Schäfer und Claus Varrelmann. Verlag Antje Kunstmann, München 2017.
(2) Fabian Schneider: Chaos. Das neue Zeitalter der Revolutionen. Verlag Promedia, Wien 2017.