Einen Tag lang war Libyen in den Schlagzeilen der Welt. Der Ministerpräsident war entführt worden. Doch sechs Stunden später war er wieder befreit. Die Welt wandte sich anderen dringenden Aktualitäten zu.
Die Medien und ihre Leser, Hörer und Zuschauer sind überfordert. Sie können sich nicht mit all dem beschäftigen, was gegenwärtig nur allein in der Arabischen Welt vor sich geht. Am nächsten Tag stand schon Syrien wieder im Rampenlicht. Ob es wohl unseren Politikern ähnlich geht wie unseren Medien und deren Publikum?
Die Ereignisse in Libyen verdienen, das man sich fragt: was geht dort vor sich? Warum? Wohin führt es? Gibt es Massnahmen, die ergriffen werden sollten, um die Entwicklung in konstruktiver Art und Weise zu beeinflussen? Welche genau?
Ein Staat ohne Armee aber mit "Milizen"
Die Grundschwierigkeit des gegenwärtigen libyschen Staates besteht darin, dass die sogenannten Milizen stärker sind als der Staates und seine Machtinstrumente. Genau besehen besitzt der Staat mit dem Ministerpräsident an der Spitze, nur ein Mittel, um Macht auszuüben: Er verfügt – oder genauer gesagt: er verfügte bis zu diesem Sommer - über die Erdöleinnahmen. Dieses Geld, gewaltige Summen, konnten und können die staatlichen Behörden noch, ausgeben und verteilen, um dadurch Einfluss zu gewinnen. Doch sie besitzen keine Machtmittel, um sich gegen die militärische Überlegenheit der Milizen durchzusetzen. Sie sind daher seit zwei Jahren darauf angewiesen, mit einiger dieser Milizen zusammenzuarbeiten, um Machtinstrumente in die Hand zu bekommen, die sie selbst und ihre Sicherheit schützen und die soweit möglich die Machtmissbräuche anderer Milizen einschränken.
Diese Milizen jedoch sind nicht bereit, sich der Regierung
unterzuordnen. Sie wollen ihre Selbstständigkeit bewahren und setzen alles daran, ihre eigene politische Agenda durchzusetzen. Es gibt – geschätzt – etwa 1‘700 Milizen in dem sehr weiten Wüstenland. Diese verfolgen mindestens 1‘700 eigene Ziele. In Wirklichkeit sind es noch viel mehr, weil jede einzelne Miliz mehrere Ziele gleichzeitig verfolgen kann. Die eigene Aufwertung und die Aufwertung des eigenen Operationsgebietes, auch die der eigenen Kultur in ihren eigenen Territorien, stehen unvermeidlich zuoberst auf den meisten Agenden.
Die Mitarbeit von ausgewählten Milizen muss sich die Regierung erkaufen, indem sie diesen "Gehälter" aus den Ölgeldern zahlt. Etwa 200‘000 Mann sollen auf ihren Gehaltslisten stehen. Muss man unter diesen Umständen von "Korruption" der Regierung sprechen?
Das ausgebliebene Paradies
Es geht um Subordination und Insubordination. Subordination wird in einem funktionierenden Staat von allen Seiten als eine Notwendigkeit erkannt. Sie ist Voraussetzung für das Funktionieren der Gemeinschaft. Die Mittel, um sie zu erreichen sind moralischer Natur. Sie werden aber durch die Möglichkeit von Zwangsmassnahmen abgesichert. In Libyen bestand zu Ghadhafis Zeiten absolute Subordination. Doch als Ghadhafi gestürzt wurde, gibt es sie nicht mehr. Sie wurde als etwas negatives gesehen. Die Revolutionäre wollten sie nicht. Sie wollten "frei sein". Das hiess für sie, tun und lassen, was sie wollten. Zuerst den Tyrannen zu Fall bringen, dann in einer libyschen Gemeinschaft leben, in der alles perfekt sein werde: Freiheit für alle, Wohlstand für alle.
Als dies nach dem Sturz des Tyrannen nicht eintrat, begann man die Schuldigen zu suchen. Man erkannte sie in den Kreisen der bisherigen unteren Machthaber, die nach Ghadhafi noch übrig waren. Sie mussten auch von der Macht entfernt werden.
Doch man fand Schuldige auch zunehmend unter den neu ernannten politischen Machthabern. Sie sitzen im neuen Parlament und in der von ihm bestimmen neuen Regierung. Sie waren ja nun am Ruder, doch wohin ruderten sie? Das erhoffte Paradies war ausgeblieben.
Banden, die einzelne Gebiete beherrschen
Die bewaffneten "Revolutionäre" behielten ihre Waffen. Sie rechtfertigten dies damit, dass sie weiter dafür sorgen müssten, dass die wahren Ziel der Revolution nicht von "ausbeuterischen Machthabern" gestohlen würde.
Die "Milizen" sahen sich selbst als die wichtigste, ja als die einzige Garantie dafür, dass nicht wieder Diktatoren(einzelne oder ganze Gruppen) das Land dominierten. Natürlich entwickelte jede Miliz ihren Selbsterhaltungstrieb. Dieser führte manche von ihnen dazu, mit der Regierung Geschäfte zu machen, da diese ja nun einmal über das Ölgeld verfügte.
Erst allmählich, nach dem Verlauf von zwei Jahren, begannen einige der Milizen zu erkennen, dass es ja auch die Möglichkeit gab, sich diese Gelder direkt zu beschaffen, indem man die Erdölquellen und Verladehäfen in Besitz nahm. Solche Aktionen führten zuerst jene Bewaffneten, die die Regierung zur Bewachung der Erdölquellen einsetzte. Auch Erdölarbeiter begannen, zu den Waffen zu greifen.
Diese Bewegung steht erst in ihren Anfängen. Doch ist klar, wenn sie um sich greift, verliert die Regierung ihr letztes und beinahe einziges Machtinstrument. Dann gibt es keine Regierung in Libyen mehr. Dann gibt es nur noch Banden, die einzelne Gebiete und deren Bewohner beherrschen.
Legitimitätsverluste
Die "Revolutionäre" untergraben nicht nur die Aktionsfähigkeit der Regierung, sondern auch ihre Legitimität. Die Regierung, so sagen sie, erreicht „für Libyen“ nichts, oder viel zu wenig. Deshalb habe sie kein Recht zu existieren. "Sie dient ja bloss dem eigenen Wohl", erklären die Milizen den Libyern. Manche durchschauen das Argument. Sie wissen, dass die Regierung deshalb nichts oder wenig erreichen kann, weil die Milizen ihre eigenen Ziele verfolgen und sich nicht unter- und einordnen wollen. Doch bei vielen Libyern überwiegen die Enttäuschung und die Ungeduld über die Entwicklung nach dem Sturz Ghadhafis. Sie glauben, die Regierung schwimme im Wohlstand, während es für sie noch immer keinen Wohlstand gibt.
Solche Enttäuschte können die Milizen schnell auf ihre Seite ziehen. Die Milizinäre geben vor, sie seien die einzigen Garanten, dass die Revolution doch noch zum Erfolg führt und dass die Bevölkerung davon profitiert.
Eine neue Armee gegen die alten Milizen?
Die Regierung versucht, eigene Sicherheitskräfte, Armee und Polizei, aufzubauen. Sie fordert die europäischen Staaten auf, ihr dabei zu helfen. Die Schwierigkeit dieser Aufgabe kann man nur ermessen, wenn man sich die Lage eines der jungen Libyer anschaut, die zu rekrutieren wären. Sie werden aufgefordert, sich einer harten, unbequemen und manchmal formalistisch und sinnlos erscheinenden Disziplin zu fügen. Man lässt sie exerzieren und grüssen, gibt ihnen Waffen und lässt sie daran üben. Der Lohn ist gering, die Aufstiegschancen beschränkt.
Doch neben ihren im Aufbau befindlichen Einheiten gibt es die bewaffneten "Milizen", die sich selbst lieber "Revolutionäre" nennen. Es gibt sie in doppelter Ausführung: die "zahmen" Milizen, die mit der Regierung zusammenarbeiten, und die "wilden", die ganz auf eigene Faust und Rechnung agieren. Der Übergang von der einen zur anderen Variante ist fliessend.
Diese Milizionäre sind zunächst besser bewaffnet, kampfgeübter und möglicherweise besser geführt, als die neu entstehenden offiziellen Sicherheitskräfte. Wenn es zu Zusammenstössen kommt, erweisen sie sich meist als die Mächtigeren. Ausserdem sind sie "frei", keiner Regierungsmacht unterstellt. Auch wächst die Glaubwürdigkeit ihrer eigenen Propaganda, laut der sie die "revolutionäre" Zukunft des Landes repräsentieren und sicherstellen – im Gegensatz zur Regierung, der es misslingt, die Erwartungen und Wünsche der Libyer, vor allem der Jungen und Jugendlichen unter ihnen, zu befriedigen.
Zu den Milizen überlaufen
Unter diesen Umständen ist die Versuchung für die neu Ausgehobenen gross, bei der ersten Gelegenheit mit ihren Waffen zu einer der Milizen überzulaufen. Die Miliz erscheint als die mächtigere und auch als die legitimere - und auch noch als die erfolgversprechende Kraft gegenüber der schwachen Regierung. Da laufen Einzelne zu den „Revolutionären“ über – oder ganze Einheiten.
Solange die Regierung gezwungen bleibt, sich auf "Milizen"
abzustützen, die ihr nicht voll unterstehen, untergräbt sie ihre
eigene Selbstständigkeit und Legitimität. "Ihre" Milizen handeln mindestens teilweise nach eigenem Ermessen, nicht nach den Weisungen und Wünschen der Regierung. Diese Regierung regiert die Milizen nicht, sondern läuft Gefahr, von den Milizen regiert zu werden. Nur wegen des Geldes paktieren die Pro-Regierungsmilizen mit der Regierung. Wenn es den „Revolutionären“ aber gelingt, sich selbst Geld beschaffen zu können, werden sie die Regierung fallen lassen. Mit der Besetzung von Erdölquellen und Ölinstallationen haben sie begonnen, eigene Geldquellen zu erschliessen. Da der Regierung langsam das Geld ausgeht, ist sie für die Milizen immer weniger attraktiv.
Die zivile Bevölkerung misstraut den Milizen
Einen Ausweg aus der Zwickmühle zu finden fällt schwer. Die grosse Mehrheit der Bevölkerung, soweit sie nicht zu den Milizen gehört, oder eng mit ihnen verbunden ist, lehnt das Milizwesen ab. Viele Libyer erkennen, dass ein Aufbau ohne Normalität des täglichen Lebens nicht erreicht werden kann. Mit den Milizen können keine verlässlichen Strukturen aufgebaut werden. Die Rivalenkämpfe unter den Bewaffneten bringen Unsicherheit und Unklarheit, was in der Zukunft geschehen wird. Um sich durchsetzen zu können, muss es der Regierung gelingen, den grossen Teil der libyschen Bevölkerung auf ihre Seite zu ziehen – jene, die Ruhe und Ordnung fordern.
Wem folgen? Der machtlosen Regierung? Den mächtigen Milizen?
Doch dieser Mehrheit der Libyer stehen die Bewaffneten gegenüber. Der Regierung muss es gelingen, eigene Leute, die einen starken Staat wollen, zu rekrutieren, zu bewaffnen und auszubilden – Leute, die nicht mit den übermächtigen Milizen gemeinsame Sache machen werden. Da die Mehrheit der Libyer Ruhe und Ordnung und einen starken Staat wollen, verfügt die Regierung über ein grosses Reservoir solcher Leute.
Bisher haben die "Milizen" seit dem Tod Ghadhafis eher an Macht gewonnen als an Macht eingebüsst. Das sieht man daran, dass einzelne Milizen für die Regierung unentbehrlich geworden sind. Ob es der Regierung gelingt, mit Hilfe der Bevölkerung, die Ruhe und Ordnung will, solide Sicherheitsrkäfte aufzubauen, auf die Verlass ist – davon hängt die Zukunft des Staates Libyen ab.