Eine Gruppe von Bewaffneten in Tripolis hat den libyschen
Ministerpräsidenten, Ali Zeidan, entführt. Sie überfielen ihn in
seinem Hotel in Tripolis im Morgengrauen des Donnerstags und hielten ihn etwa sechs Stunden lang fest.
Warum dies geschah, weiss man noch nicht, und was zur
Freilassung führte, ist ebenfalls unbekannt. Ein Sprecher der Täter hatte zunächst erklärt, die Entführung sei eine Reaktion auf das amerikanische „Verbrechen“ vom vergangenen Samstag. Bei diesem amerikanischen Handstreich war der mutmassliche Terrorist al-Liby gefangen genommen worden.
Viele Libyer sind über diesen Eingriff der Amerikaner in die libysche Souveränität erzürnt. Ein Sprecher von Aussenminister Kerry hatte erklärt, die Aktion habe mit der stillschweigenden Duldung der libyschen Behörden stattgefunden. Diese selbst hatten das dementiert.
Später liessen die Geiselnehmer jedoch verlauten, die Verschleppung habe nichts mit der al-Liby-Affäre zu tun. Der Ministerpräsident habe sich möglicherweise finanzieller Vergehen schuldig gemacht.
"Regierungsfreundliche" Milizen als Täter
Die Gruppe der Geiselnehmer nennt sich "Operationsraum der Libyschen Revolutionäre". Auch die Bezeichnung "Zelle zur Bekämpfung von Verbrechen" wurde verwendet. Ob dies die gleiche Gruppe meint, oder ob zwei ähnliche Gruppen zusammenarbeiteten, bleibt offen. Es handelt sich jedenfalls um eine oder zwei der bewaffneten Gruppen, die zu jenen gehören, welche lose mit der Regierung zusammenarbeiten, die sich aber weigern, ihre eigene Struktur und ihr eigenes Kommando aufzugeben.
Die Regierung sieht sich zu dieser Zusammenarbeit gezwungen, weil die bewaffneten Revolutionsgruppen in Libyen über mehr Waffen, Munition und bewaffnete Kämpfer verfügen als die Regierung selbst. Die "Kontrollzelle" oder der "Operationsraum" behaupteten, sie hätten auf Weisung des General-Staatsanwalts gehandelt, der gegen den Ministerpräsidenten vorgehen wolle. Doch der Justizminister Libyens, Salah al-Marghani, sagte, ein derartiges Verhaftungsmandat existiere nicht.
Milizen gegen Milizen
Ein Dokument, das die Angreifer vorzeigten, um Eintritt ins Hotel zu erlangen, war wahrscheinlich gefälscht. Welche Anklage gegen den Ministerpräsidenten vorliege, sagten die Entführer nicht. Der Ministerpräsident wurde in der Kriminalabteilung des Innenministeriums festgehalten. Wie und durch wen er schliesslich befreit wurde, ist unklar. Ali Zeidan selbst dankte öffentlich den "wahren Revolutionären, die nicht an sich selbst denken, sondern das Wohl
der Allgemeinheit anstreben". Laut unbestätigten Berichten, sollen empörte Bürger zusammen mit andern Milizen die Geiselnahme beendet haben. Sie hätten sich vor dem Ministerium zusammengefunden und die Freilassung bewirkt. Doch die genauen Umstände bleiben unklar und werden möglicherweise nie völlig aufgeklärt werden.
Um die Ereignisse zu verstehen, muss man sich die Vorgeschichte in Erinnerung rufen. Die „Milizen“, die gegen Ghadhafi kämpften und im Sommer 2011 – zusammen mit Hilfe der Nato – seinen Sturz herbeiführten, haben sich bisher geweigert, ihre Waffen abzugeben und sich aufzulösen. Dies war von der Regierung gefordert worden. Die Macht dieser bewaffneten "Milizen" ist grösser als die Macht der Regierungstruppen. Im Lauf der letzten zwei Jahre sah sich die Regierung deshalb gezwungen, mit einigen dieser Gruppen zusammenzuarbeiten. Zusammen ging man so gegen andere bewaffnete Gruppen vor, die ihre eigenen Ziele verfolgen wollten. Diese sind entweder lokalpolitischer, islampolitischer, (das heisst islamistischer), wirtschaftlicher oder schlicht verbrecherischer Natur.
Milizen unterhalten eigene Gefängnisse
Die Gruppen, die sich bereit erklärten, mit der Regierung
zusammenzuarbeiten, weigerten sich jedoch, ihre Eigenständigkeit aufzugeben und als Soldaten oder Polizisten in den Dienst der Regierung zu treten. Sie behielten ihr eigenes Kommando und ihre eigenen Waffen. Es gab sogar solche, die eigene Gefängnisse unterhielten, in denen Menschen festgehalten oder gar misshandelt wurden, die der betreffenden Gruppe nicht passten, oder auch von ihr erpresst werden sollten.
Wenn eine solche "Miliz" allzu verbrecherisch wurde, suchte die Regierung, sie unter Kontrolle zu bringen, indem sie eine andere "Miliz" veranlasste, gegen sie vorzugehen. Genügend eigene Mittel, das heisst genügend diszipliniertes, ausgebildetes und einsatzbereites Personal, hatte die Regierung nicht. Die "Pro-Regierungsmilizen" beschränkten ihre Aktivitäten nie darauf, bloss auf Weisung der Regierung zu handeln. Sie taten dies, und liessen sich dafür bezahlen. Doch die meisten verfolgten gleichzeitig auch eine eigene Agenda – mit manchmal politischen, manchmal rein verbrecherischen Absichten.
Polit-Verbot für Ghadhafi-Beamte
Mit ihren „politischen“ Aktionen gelang es den Milizen, die Regierung massiv unter Druck zu setzen. So belagerten Milizionäre immer wieder das Parlament, sowie das Aussen- und Justizministerium. Diese Aktionen gingen meistens blutlos über die Bühne, führten aber dazu, dass die
politischen Wünsche der Milizenchefs erfüllt wurden. Dazu gehörte, dass das Parlament sich gezwungen sah, gegen seinen ursprünglichen Beschluss, ein Gesetz zu verabschieden, das alle jene höheren Beamten mit einem Polit-Verbot belegte, die während Ghadhafis 40-jähriger Herrschaft im Amt waren. Damit verlor Libyen eine bedeutende Zahl seiner ohnehin wenigen Fachleute und qualifizierten Regierungsbeamten. Einen Ersatz gab es nicht.
Im September haben bewaffnete Gruppen auch begonnen, auf die Erdölindustrie Druck auszuüben. Sie haben Erdölquellen und Ladehäfen besetzt. Einige der Aktivisten scheinen sogar versucht zu haben, libysches Erdöl an "unkontrollierte Tanker" auf eigene Faust zu verkaufen. Diese Aktionen gehen dem libyschen Staat an die Gurgel. Seine Kontrolle über die Erdöleinkommen ist bisher eines der wenigen und gewiss das wichtigste Mittel gewesen, das es der Regierung erlaubte, überhaupt als Regierung zu existieren. Die Erdölförderung brach ein und ging zweitweise auf einen Fünftel zurück. Später soll sie wieder auf zwei Fünftel angewachsen sein, weil einige der "bewaffneten Streiks" an den Ölquellen und in den Verladehäfen beigelegt werden konnten.
„Regierungsfreundliche" und "wilde" Milizen
Es gibt auch zahlreiche "Milizen", die nicht mit der Regierung
zusammenarbeiten. Manche lehnen dies ab, andere wurden nie zur Zusammenarbeit aufgefordert. Unter diesen völlig unkontrollierten Milizen gibt es die Fachleute des Terrorismus islamistischer Färbung. Der Mord des amerikanischen Botschafters und drei anderen Amerikanern im Generalkonsulat von Benghazi vom 11. und 12. September 2012 ist wahrscheinlich einer dieser Gruppen anzulasten.
Unter den bewaffneten Gruppen gibt es natürlich Rivalenkämpfe. Doch es gibt auch Vereinbarungen unter ihnen sowie personelle Verschiebungen und stetige Neubesetzungen in den Führungskreisen. In ihrer Gesamtheit bilden die bewaffneten Gruppen ein Gestrüpp, das höchstens auf lokaler Ebene, wo jeweils einige von ihnen das Feld beherrschen, einigermassen durchschaubar
ist.
Wohlstandsleben
Die bewaffneten Gruppen sind bei der libyschen Bevölkerung
zunehmend unbeliebt. Die Libyer wünschen sich nach den Ghadhafi-Jahrzehnten und dem Chaos des revolutionären Kampfes endlich ein „normales“ Leben. Viele allerdings haben die Vorstellung, dieses „normale“ Leben würde wegen des immensen Ölreichtums ein Wohlstandsleben sein, wie es in Kuweit oder in den Emiraten besteht.
Ministerpräsident Ali Zeidan hat immer wieder betont, er wolle die "Milizen" bekämpfen und ihre Aktionen eindämmen. Laut ihm sollten die Milizionäre ins Zivilleben zurückgeführt oder in den offiziellen Armee- oder Polizeieinheiten aufgenommen werden. Zaidan hat auch oftmals die europäischen und amerikanischen Machthaber dazu aufgerufen, mehr zu tun, um Libyen zu helfen, seine Sicherheitsprobleme in den Griff zu bekommen. Dies, so erklärt Ali Zeidan, liege auch im Interesse der entwickelten Industriestaaten selbst. Vor allem deshalb, weil die Milizen über unkontrollierte Waffenarsenale verfügten.
Wo sind die Stinger-Raketen?
Etwa drei Viertel aller Waffen aus den gewaltigen Beständen der Ghadhafi-Armee befinden sich in den Händen der Milizen. Einen Teil davon verkaufen sie an Waffenhändler oder Waffenschmuggler. Diese tragen dann dazu bei, dass
sich die Waffenarsenale über die ganze Sahara ausdehnen. Sie haben Mali erreicht, aber auch das ägyptische Delta, Sinai und - beflügelt durch Gelder aus Saudi-Arabien und Katar - die syrischen Rebellengruppen.
Ein Beispiel sind die sogenannten MANPADS (man portable air defence systems), tragbare Kleinraketen, die gegen Flugzeuge eingesetzt werden können (Kampfflugzeuge aber natürlich auch Linienflugzeuge!). Diese Art von Waffen fehlt heute den syrischen Rebellengruppen schmerzlich. Solche Raketen, die Stingers, waren seinerzeit in Afghanistan beim Kampf gegen die sowjetische Besatzungsmacht kriegsentscheidend. Solche Raketen hatten damals den Einsatz von Kampfhelikoptern gegen die aufständischen Afghanen erschwert oder verunmöglicht. Ghadhafi soll "zwischen 3000 und 8000" davon besessen haben. Wo sind sie heute? Wer ist in der Lage, sie zu bedienen?
Somalia in Libyen?
Wie geht es weiter in dieser instabilen Lage? Entweder bleiben wie bisher die "Milizen" mächtiger als die Regierung. In diesem Fall führt die Entwicklung in kleinen Schritten ins Chaos. Am Ende steht der vollständige Staatszerfall, Stichwort: Somalia.
Oder dem Staat gelingt es, an Macht zu gewinnen. Dann kann langsam ein funktionierendes Staatswesen aufgebaut werden. Von einer solchen Entwicklung ist bisher nichts zu spüren. Die Macht und die Übergriffe der Milizen sind daher langsam aber stetig gewachsen.
Ein Somalia in Libyen wäre eine Katastrophe für die Libyer. Es wäre aber auch eine schwere Belastung für die Nachbarn, sowohl in Nordafrika wie auch jenseits des Mittelmeers. Vielleicht trägt die sensationelle Entführung eines Ministerpräsidenten nun dazu bei, dass die nordafrikanischen Nachbarn, aber auch die Europäer, endlich energisch beginnen, die libysche Regierung zu stärken und zu stützen. Plötzlich wird es zu spät sein. Dann wird alles auch mehr kosten – sowohl an Geldern als auch an Menschenleben.