Neun Monate bevor sich der Tag zum 100. Mal jährt, da Berlin am 3. August 1914 Paris den Krieg erklärt hat, haben die Franzosen bereits jetzt mit Gedenkveranstaltungen begonnen.
Wer aus dem europäischen Ausland eines Tages zufällig an einem ganz normalen 11. November nach Frankreich kommt, wird, sofern er nicht aus Grossbritannien anreist, erstaunt sein und sich fragen, warum dieser Tag in Frankreich ein Feiertag ist. Sollte der Gast aus dem deutschen Rheinland kommen wird er ganz besonders verwirrt sein – ist für ihn der 11. November doch in erster Linie der offizielle Auftakt der Karnevalssaison.
Man mag die Stirn runzeln oder sogar ein wenig lächeln doch diese französische Besonderheit diese auch hundert Jahre danach noch lebendige und ausgiebig gepflegte Erinnerungskultur an den 1. Weltkrieg ist kein Zufall.
Die Spuren
Vier lange Jahre hat dieser Krieg damals überwiegend auf französischem Territorium gewütet und 1,5 Millionen Franzosen das Leben gekostet – rund 4% der Bevölkerung. Ganze Landstriche im Norden und Osten Frankreichs tragen bis heute die Spuren dieser nicht enden wollenden Metzelei sprichwörtlich in ihrer Erde. Tausende Quadratkilometer sind auch im Jahr 2013 im Grunde noch Mondlandschaften mit kleineren und grösseren Kratern, über die allerdings zumeist wieder Bäume gewachsen sind. Französische Erde aufgewühlt, durchsiebt und millionenfach in Granatmulden verwandelt.
In Frankreich hat der Zweite Weltkrieg trotz der Erniedrigung des Landes durch den Blitzsieg von Hitlers Truppen, der Massenflucht von Millionen Franzosen in die bis Ende 1942 formell nicht besetzte Südhälfte des Landes - trotz der langjährigen Besatzung und der von der Gestapo verübten Greuel, sowie der Deportation von über 70 000 Juden die Erinnerung an den ersten Weltktrieg nie auslöschen können – im Gegenteil. Wer eine ganz einfache Antwort auf die Frage haben will, warum das so ist, der muss bei Fahrten durch Frankreich nur hin und wieder kurz einen Blick auf die Kriegerdenkmäler in den über 30 000 Gemeinden des Landes werfen. Die eingemeiselten Listen der Toten aus dem 1. Weltkrieg sind auch in den kleinsten Dörfern so unendlich lang, dass man oft einfach ungläubig und Kopf schüttelnd davor steht und schlicht nicht wahrhaben will, dass aus einem verschlafenen Dorf von heute 300 oder 400 Einwohnern damals 30 oder 40 Söhne und Väter an der Front ihr Leben gelassen haben. Die Toten aus dem 2. Weltkrieg dagegen lesen sich meistens an den Fingern einer Hand ab.
1000 Gedenkveranstaltungen
Von daher ist es kein Wunder, dass die 100. Wiederkehr des Beginns des 1. Weltkriegs 2014 in Frankreich Anlass ist für eine geradezu gigantische Fülle von Veranstaltungen, Ausstellungen, Kolloquien und Events aller Art ist. Für dieses 100. Jubiläum wurde von höchster staatlicher Stelle sogar extra eine wissenschaftliche Mission mit namhaften Historikern ins Leben gerufen, die mehr als 1000 Veranstaltungen im ganzen Land ihr offizielles Siegel verliehen hat.
Rund 30 Ausstellungen kündigt allein die Stadt Paris zum Thema erster Weltkrieg an. Fast jedes Departement, ja unzählige Landkreise und Städte werfen in der einen oder anderen Form einen Blick auf das örtliche Alltagsleben zwischen 1914 und 18. Ein Theaterstück auf der Grundlage von Gedichten des antikonformistischen Schriftsteller Joseph Delteil geht zwischen Carcassonne und Narbonne auf Tournée mit dem Titel « Les poilus» - «Die Frontsoldaten». Ein deutsch-französisches Theaterstück mit Texten Ernst Jüngers und Maurice Genevoix' wird kreiert. Eine elsässische Kleinstadt bietet modernen Tanz über die Begegnung von Afrikanern, Bewohner der Antillen und Franzosen im Matsch der Schützengräben und unter Granathagel. Hier eine Ausstellung über das Thema „1. Weltkrieg in der Keramik“, dort eine andere, nebst Lektüre und Konzert, über das Kriegschello, das sich damals Frankreichs berühmtester Cellist, der Frontsoldat Maurice Marechal, aus dem Holz einer Munitionskiste hatte bauen lassen. Bei Rugby Länderspielen gegen Neuseeland und Australien wurde bereits den Weltkriegsteilnehmern aus diesen Ländern gedacht, wobei viele Franzosen dabei lernten dass damals doch tatsächlich 120000 Soldaten aus Neuseeland an der Seite der Franzosern gekämpft hatten. Rolland Garos war ein Fliergerheld des 1. Weltkriegs, also wird das Gedenken auch bei den French Open 2014 Einzug halten und natürlich führt die Route der nächsten Tour de France gleich an drei emblematischen Orten dieses Kriegs vorbei: Ypres, Chemin des Dames und Verdun.
Nicht zu vergessen sind schliesslich mehrere hundert Schulprojekte im ganzen Land. In den Vogesen z.B. sind Gymnasiasten zu einem Multimedia-Projekt eingeladen, um u.a. einen Videoclip zu produzieren mit dem Titel: «45 Sekunden im Leben eines Frontsoldaten» . Und die Fremdenverkehrbüros in Nord- und Ostfrankreich stehen natürlich auch schon seit Monaten Gewehr bei Fuss, um den im Jahr 2014 gewiss ganz besonders umfangreichen Schlachtfeldtourismus zu bewältigen. Die Rede ist von Millionen Gästen, die Frankreich würdig zu empfangen habe.
Der Präsident persönlich
Um dieses Gedenkjahr einzuläuten, war am letzten 7. November gar Präsident Hollande persönlich im Elysée mit staatstragenden Worten über die Notwendigkeit des Gedenkens in einer Art Staatsakt vor die höchsten Vertreter aus Politik, Wirtschaft und Gesellschaft des Landes getreten. Er griff wie schon während seines Wahlkampfs wieder zum Stilmittel der Anapher wiederholte ein Dutzend Mal die Formel: «Commémorer c'est ... » um seinen Mitbügern zu sagen, das Erinnern an den ersten Weltkrieg sei unter anderem eine Botschaft des Vertrauens in ihr Land, bedeute, den Patriotismus zu erneuern, sich die Kraft der vorhergehenden Generationen zu Nutzen zu machen und eine Botschaft des Friedens zu senden. Es sei eine Art und Weise zu zeigen, dass die Republik vor nichts Angst haben müsse. Worte, die es jedem irgendwie Recht machen wollten. Von einer sehr einvernehmlichen Rede sprachen die Kommentatoren hinterher.
Die Höhepunkte
Am Ende liess es sich Präsident Hollande nicht nehmen, einige Höhepunkte des Gedenkjahrs höchstselbst anzukündigen unter dem Motto: das Jahrhundertjubiläum möge ein Moment der Brüderlichkeit mit den Kriegsgegnern von gestern sein.
So werden also am 14. Juli 2014, dem französischen Nationalfeiertag, Vetreter der 72 kriegsführenden Nationen des 1. Weltkriegs eingeladen, an der Militärparade auf den Champs-Elysées teilzunehmen. Und der Nationalfeiertag soll einen bisher einzigartigen, internationalen Charakter bekommen. Soldaten in Uniform und junge Zivilisten aus all diesen 72 Länder sollen zusammen an einem grossen Fest für den Frieden teilnehmen.
Am 3. August dann, am Tag, als Deutschland Frankreich vor 100 Jahren den Krieg erklärt hat, wird der deutsche Bundespräsident, Joachim Gauck in Frankreich zugegen sein und an den Gedenkzeremonien teilnehmen.
Ein weiteres Symbol für ein europäisch-internationales Gedenken ist ein Grossprojekt in Nordfrankreich, wo an der Gedenkstädte Notre Dame de Lorette in alphabetischer Reihenfolge nur die simplen Namen der 600 000 Soldaten, die in dieser Region, dem heutigen Departement Nord-Pas de Calais, gefallen sind, auf einer Wand verewigt werden ohne jeden Verweis auf ihre Staatsangehörigkeit.
Erinnerungen aus Speichern und Truhen
Nicht zu vergessen das landesweite Vorhaben, wonach französische Familien - potentiell sind es noch 7 Millionen - verbliebene Briefe, Fotos, Tagebücher und Dokumente aus alten Kisten und feuchten Keller - an zentralen Stellen eines jeden Departements für die Nachwelt digitalisieren lassen sollen.
Auch das Thema der aufständischen Soldaten und der Füsilierten, die damals das Gemetzel nicht mehr mitmachen wollten und ihre mögliche offizielle Rehabilitierung, wird in diesem Gedenkjahr immer wieder diskutiert werden. Man wird den Bogen schlagen zum 70. Jubiläum der Landung der Alliierten in der Normandie 1944 und daran erinnern, dass Frankreichs Widerstandkämpfer sich häufig auf den Heroismus der Frontsoldaten von 14/18 beriefen. Und so der Historiker Antoine Prost :
„Der Erste Krieg hatte neben dem demographischen Ausbluten Frankreichs ein richtiggehendes Trauma in der ganzen Bevölkerung Frankreichs zur Folge. Ein Trauma, welches den Pazifismus der 30-er Jahre erklärt. Die Erinnerung an den Schrecken des gerade vergangenen Krieges liess die Menschen in den 30-er Jahren vor dem kommenden Krieg zurückweichen und brachte einen Pazifismus hervor, der Hitler letztlich freien Raum liess.“
Verleger freuen sich
Ein wahres Phänomen in Frankreich ist schliesslich die schier unglaubliche Flut von Büchern zum Thema 1. Weltkrieg, die in diesem Jubiläumsjahr erneut über das Land hereinbricht. Der so genannte «Grosse Krieg» bescheert französischen Verlagen seit Jahrzehnten das grosse Geschäft. Die “Paroles de Poilu“ zum Beispiel – also “Worte von Rekruten“ – Briefe und Tagebücher von der Front sind seit ihrem ersten Erscheinen vor 15 Jahren 1,3 Millionen mal verkauft worden. Jetzt melden Frankreichs Verlage – obwohl schon tausende Bücher zu diesem Thema auf dem Markt sind - allein für das 2. Halbjahr 2013 126 Neuerscheinungen, die sich mit dem 1. Weltkrieg beschäftigen.