Wofür steht Angela Merkel und wie hat sie es geschafft, sich eine kaum noch anzufechtende politische Machtposition zu verschaffen? Es war überfällig, dem Phänomen Merkel analytisch auf die Spur zu kommen. Daher sollte man als erstes vor Gertrud Höhler den Hut ziehen. Es ist alles andere als selbstverständlich, dass sie als langjähriges CDU-Mitglied diesen Versuch unternommen hat.
Ausserdem war von vornherein klar, dass sich Gertrud Höhler für dieses Buch eine Menge Prügel einhandeln würde. Denn die Beliebtheitswerte von Angela Merkel sind hoch. Wer Merkel radikal in Frage stellt, muss wissen, dass er selbst nicht ohne Blessuren davonkommt.
Das Erfolgsrezept des Opportunismus
In einer der populärsten Talkshows der ARD, Günther Jauch, sah sich Gertrud Höhler prompt der massiven Gegenwehr von Ursula von der Leyen und von Lothar de Maizière, der bei der Wende1989 eine zentrale Rolle gespielt hat, gegenüber. Darüber hinaus schallte ihr ein vielstimmiger Chor der Kritik in allen möglichen Medien entgegen.
Ein Buch aber ist ein Buch, und anders als in einer Talkshow lässt sich darin weitaus differenzierter argumentieren. Das ist in Höhlers Fall um so nötiger, als sie darin eine extrem zugespitzte These zu belegen versucht. Die These lautet: Angela Merkel habe deswegen die politische Spitze erreicht, weil sie aufgrund ihrer ostdeutschen Sozialisation gelernt habe, sich auf nichts und niemanden festzulegen. Ihr Opportunismus sei ihr Erfolgsrezept.
Dazu komme ihr Machtinstinkt. Diese Mischung aus Opportunismus und Machtinstinkt lasse sie auch auf Mitglieder innerer Zirkel der Partei als „kalt wie eine Hundeschnauze“ wirken. Und Höhler vergisst nicht, immer wieder zu betonen, dass sich dieser Machtinstinkt im Spannungsfeld weiblicher Waffen und männlichen Gehabes entfalte.
Die DDR als "Anderland"
Gertrud Höhler hat in ihren zahlreichen Büchern immer wieder über das Verhältnis von Frauen und Männern nachgedacht. Dabei sind ihr sehr schöne und zutreffende Beobachtungen gelungen. Ganz sicher hat sie mit ihren klugen Analysen wichtige Beiträge zu Firmenkulturen geleistet, in denen Frauen und Männer gegenseitig von ihren Stärken profitieren, weil sie die unterschiedlichen Fähigkeiten respektieren.
Genau diese Perspektive wird ihr im Fall Merkel zum Verhängnis. Sie beschreibt ihren Aufstieg als den einer Frau, die aus „Anderland“ - so nennt Höhler durchgehend die ehemalige DDR – kommt und sich als Frau in einer Männerwelt kühl kalkulierend durchsetzt.
Ein früheres Buch von Höhler trägt den Titel: „Wölfin unter Wölfen“. Sie beschreibt darin gruppendynamische Prozesse ähnlich wie Vorgänge in Rudeln – Wolfsrudeln. Diese Perspektive verstellt ihr aber den Blick im Fall von Angela Merkel. Natürlich hat Höhler Recht, wenn sie darauf hinweist, wie Merkel zielstrebig tatsächliche oder vermeintliche Rivalen „weggebissen“ hat. Das ist schon oft beobachtet und beschrieben worden.
Das "System M"
Höhlers Fehler liegt aber darin, dass sie Merkels Politikstil allein unter der Rudelprspektive als „System M“ beschreibt. Der Hauptvorwurf, den sie gegenüber Merkel erhebt, liegt in der Beliebigkeit der Werte beziehungsweise der Bindungslosigkeit. Merkel habe sich als „Testfahrerin von Ideen“ erwiesen, die alles sofort verwirft, was keinen Erfolg verspricht. Sie habe die CDU entkernt, den Sozialdemokraten Themen weggenommen und bei der Euro-Politik mehrfach das Recht gebrochen: Das geschah immer nur unter der Perspektive der Macht.
Indem Höhler das „System M“ ausschliesslich als Rudelverhalten analysiert, entgeht ihr, dass Angela Merkel nur das Symptom eines viel tiefer liegenden Problems ist. Die Beliebigkeit der handlungsleitenden Werte ist nicht Merkels Erfindung. Eindrucksvoll formuliert Höhler, dass Merkel die tragenden wertebasierten Säulen Europas „lautlos gesprengt“ habe. Aber kann Merkel dafür exklusiv haftbar gemacht werden? Ist das „System M“ de facto nicht weit schlimmer, als Höhler es darstellt: Ausdruck einer fundamentalen Wertevergessenheit der Politik überhaupt?
Die Karriere als Leitwölfin
Alles, was Höhler an Relativismus der Machtpolitikerin Merkel vorhält, ist von anderen Politikern im In- und Ausland ebenso praktiziert worden. Sie erwähnt Gerhard Schröder und die Agenda 2010: War das nicht eine Relativierung sozialdemokratischer Werte? Zeichnen sich nicht alle Politiker durch eine „Lernfähigkeit bis zum Identitätsverlust“ aus, wie Hans-Magnus Enzensberger 1976 im „Kursbuch 45“ in Bezug auf die „Kleinbürger“ formuliert hat? Gilt das nicht auch für den Hoffnungsträger Barack Obama, der nicht aus der ehemaligen DDR stammt?
Höhlers Analyse wäre absolut brillant, wenn sie Merkel als Symptom des zeitgenössischen Politikstils und nicht als ostdeutsche Verfallsform - „Anderland“ ! - analysiert hätte. Dieser falsche Ansatz, diese falsche Perspektive rächt sich in dem Buch fürchterlich. So verfällt Gertrud Höhler gegenüber Angela Merkel ständig in einen Jargon des Verdachts. Jedes Handeln, jede Option, jede Zustimmung, jede Aversion wird als Ausdruck inhaltsleerer Taktik zum Zweck der eigenen Karriere als Leitwölfin gedeutet.
Erkennbarkeit
Man gewinnt den Eindruck, dass Merkel hätte tun und lassen können, was sie wollte: In den Augen Höhlers war und ist sie immer schon schuldig. Und noch weiter: Es gab keinen Schritt, den Merkel nicht mit absoluter, naturwissenschaftlich geschulter Präzision geplant hätte. Sie hat die Kälte einer Schachspielerin, die vom ersten Zug an die Schwäche der – männlichen ! - Gegner einkalkuliert und schon ihr Begräbnis im Blick hat. Da drängt sich der Schluss auf, dass wir uns eine bessere Euro-Retterin gar nicht wünschen könnten. Denn wenn jemand schon die christlich-sozialen Werte der CDU mit kaltem Kalkül in den Orkus jagt, sollte wenigstens noch etwas Geld für uns alle übrig bleiben.
Als Glied in ihrer Beweiskette verwendet Gertrud Höhler ein Votum Joachim Gaucks. Gauck hatte gesagt: „Ich respektiere sie, aber ich kann sie nicht richtig erkennen.“. OK, man versteht was gemeint ist. Aber aus einer gewissen Distanz heraus kann man schon fragen, ob man eine solche Einschränkung nicht bei vielen Personen machen muss. Wer ist schon durch und durch „erkennbar“?
Schuss aus der Deckung
Und wer sich ein bisschen umtut in der sozialen Wirklichkeit Deutschlands, hört viel von jenen Gestalten auf der Ebene von Schulleitungen oder von Verwaltungen, die dank Coaching gelernt haben, sich auf überhaupt nichts mehr festzulegen, jede Wertebindung zu verleugnen und alle Kritik und alle Probleme einfach nur wegzulächeln. Höhler geht darauf nicht ein – und Merkel wäre für diese widerlichen Entwicklungen ganz gewiss nicht verantwortlich zu machen. Aber es sind Probleme, die im Trend unserer Zeit liegen. Wer immer nur auf Merkel starrt, lenkt von diesen Problemen ab.
Kommen wir zurück auf Höhlers Buch. Man merkt der gelernten Literaturwissenschaftlerin die eigene Überanstrengung aufgrund des falsch angelegten methodischen Ansatzes an. Sprachlich gibt sie immer Vollgas. Schon am Anfang des Buchs stolpert man über Formulierungen im Zusammenhang mit Merkels Rolle bei der Demontage Kohls wegen der Schwarzgeldaffäre der CDU: „Der Schuss aus der Deckung, mit dem sie Kohl degradiert, braucht den Schalldämpfer der Agentursprache, weil Themen transportiert werden sollen, die Kohl Sturz ethisch begründen.“
Ideen-Leasing
Dass Nachrichtenagenturen „Schalldämpfer“ verwenden, ist neu. Ein paar Zeilen vorher heisst es: „Eine so schrille Botschaft, in Seidenpapier gehüllt und mit dem Styropor simulierten Mitgefühls verpackt, .... entspricht Merkels Neigung, undercover als Testfahrerin unterwegs zu sein.“ Merkel als Testfahrerin: Dieses Bild liebt Höhler. Als Merkel bereits Kanzlerin ist und sich in der grossen Koalition vermeintlich sozialdemokratische Ideen aneignet, schreibt Höhler. „Die Testfahrerin liefert keine glühenden Kanzlerworte, sondern sie gibt der Kugel, die schon rollt, einen unmerklichen letzten Schubs.“ - Geben Testfahrer Kugeln Schübse?
Völlig unverständlich ist, was Höhler mit dem angeblichen „Ideen-Leasing“ von Angela Merkel meint. „Die Testfahrerin im CDU-Themenpark ist einige Jahre in einem Geschäft unterwegs, das man als Ideen-Leasing bezeichnen kann.“ Klar ist, dass Höhler ein Ressentiment ausdrückt. Wenn man diese Ressentiment beiseite schiebt, lässt sich fragen, was zwischen der Zahlung von ordnungsgemässen Tantiemen oder dem Raubkopieren gemeint sein könnte. Und welche Ideen überhaupt gemeint sind. Und wenn schon Ideen: Sind politische Ideen, die in Parteiprogrammen stehen, irgendwie kostenpflichtig, so dass man diese Kosten über Leasingraten abzahlen könnte? Aber darauf kommt es bei Höhler gar nicht an.
Das angebliche "Gutmenschen-Thema"
Denn der Fokus des Buches liegt auf der Energiewende: Dass Merkel nach Fukushima den Atomausstieg vorangetrieben hat, bringt Gertrud Höhler in masslose Rage. In der Tatsache, dass Merkel in dieser Frage auf einen überparteilichen Konsens zählen kann, sieht Höhler eine späte Rache der DDR, exekutiert von Angela Merkel: „Immer mehr Konsens in und zwischen den Parteien bedeutet nicht mehr, sondern weniger Chancen auf eine beste Lösung. Die planwirtschaftliche Gesellschaft ist in diesem Sinne eine Konsensgesellschaft. Der staatliche Durchgriff auf die Energiewirtschaft, gut getarnt durch das Gutmenschen-Thema Atomausstieg, ist eine Operation am offenen Herzen der Wohlstandsgesellschaft.“
Nach diesen Sätzen freut man sich schon auf das nächste Buch von Frau Höhler. Darin könnte sie darlegen, in welcher Weise die Atomwirtschaft fundamental mit den christlichen Werten der CDU zusammenhängt, warum die staatliche Subventionierung der Atomenergie nicht mit planwirtschaftlichen Massnahmen verwechselt werden darf und warum die ungelösten Sicherheits- und Endlagerfragen der Atomenergie keinen Grund für ethische Bedenken und schon gar nicht zur Beunruhigung liefern.
Die Faust in der Tasche
Aber lassen wir die Ironie. Denn Ironie ist zu fein für Sätze wie: „Wäre es nicht die Regierungschefin, die den tollkühnen Schlag ins Herz der Marktwirtschaft führte, so würde man von einem Staatsstreich sprechen.“ Der Punkt ist gar nicht einmal der, dass die abrupte Wende von Angela Merkel bezüglich Energieversorgung tatsächlich Grund für ernsthafte, auch rechtliche Fragen liefert. Das Beschämende am Buch von Gertrud Höhler ist, dass sie eine Linie von der ehemaligen DDR zum Atomausstieg zieht.
Höhler bezeichnet sich als Unternehmensberaterin. Sie hat ihr Buch allen gewidmet, „die die Faust noch in der Tasche haben“. Damit hat sie Recht. Denn mit ihrem Buch wird sie diejenigen mit Verstand kaum ansprechen - auch nicht in der Nuklearindustrie.
Gertrud Höhler, Die Patin. Wie Angela Merkel Deutschland umbaut, Orell Füssli Zürich 2012