Worte sind Klippen. Unverhofft bricht sich an ihnen das, was gewöhnlich mit ihnen verbunden wird. Jürgen Werner besteigt diese Klippen, schaut in die Tiefe und hat für jeden Tag eine Erkenntnis, die im Leser ein "Genau so ist es!" hervorruft.
Die Einsamkeit der Zweisamkeit
Zum Thema Liebe notiert er unter anderem: „Das ´erste Mal` ist oft die Ankündigung des letzten Mals: Nähe ist ein für die Liebe tödliches Gift, das so langsam wirkt, dass man seine letale Zerstörung zu spät merkt.“
Passend dazu notiert er zum Thema "Zweisamkeit", übrigens dem letzten Stichwort dieser Sammlung von A bis Z: “Nicht nur die Wortähnlichkeit zur Einsamkeit lässt mutmassen, dass es sich hier nur um eine abgeleitete Lebensform handelt: als ob sich die Einsamkeit numerisch verdoppelt hätte.“ Und er schliesst: „Die Zweisamkeit heilt das Alleinsein, kann aber den Schmerz der Einsamkeit verstärken.“
Das erste Wort in seiner Sammlung ist "Abschied". Der erste Satz dazu: "Abschied ist der Akt in einer Beziehung, der nicht gelingen kann."
Verblüffende Mischung
Anstatt dieses Buch vorzustellen und mit kritischen Anmerkungen zu versehen, wie es sich für eine richtige Rezension gehört, möchte man wieder und wieder zitieren. So heisst es unter dem Stichwort „Lust“: „Wenn Seele und Körper nach Erfolg streben, entwickeln sie Lust.“ Dabei sei nicht entschieden, „ob die Lust eine Freude oder eine Vorfreude darstellt.“
Jürgen Werner ist katholischer Theologe, Philosoph und Germanist. Vertreter dieser Fächer neigen in ihrer Ausdrucksweise eher zu akademischen Schnörkeln als zu pointierten Formulierungen. Bei Jürgen Werner aber findet sich eine verblüffende Mischung aus geradezu frech-waghalsiger Direktheit und höchst anspruchsvollen und scharfsinnigen Überlegungen.
Störung der Bedeutungen
Deswegen kann unter dem einen oder anderen Stichwort aus dem „Alphabet des Lebens“, wie es im Untertitel heisst, ein einziger Satz stehen, oder man befindet sich in einer pointierten Abhandlung, in der auch mit gelehrsamen Zitaten nicht gegeizt wird. Sprachliche Knalleffekte und geistige Höhenflüge gehen bei Werner ineinander über.
Im Vorwort schreibt er, dass er „Wörter im Besitz ihrer Bedeutungen stören" will. Eines seiner Vorbilder ist Georg Christoph Lichtenberg. In ihm sieht er den Meister beim Testen der „Brüchigkeit des Lebens“ und dem Aufspüren des Bedeutungsüberschusses von Worten: „Kein Wort ist abstrakt. Selbst das abgehobene, scheinbar theoretische Konstrukt entstammt einer Lebenswelt aus bunten Anschauungen, schlummernden Empfindungen, dramatischen Beziehungen. Die zu entdecken, wiederzugewinnen, ist oft verbunden damit, dass die Wörter plötzlich beseelt werden von einer ungeahnten Kraft.“
Dank und Dankbarkeit
So erklärt Jürgen Werner am Wort der „Dankbarkeit“ die ganze Ambivalenz, die in einem Dank steckt. Denn im Grunde ist der Dank eine Form eines „symbolischen Gegengeschenks“, das dazu dient, ein Ungleichgewicht auszugleichen. Streng davon zu unterscheiden ist nach Jürgen Werner die Dankbarkeit als eine innere Haltung. Und um diesem Gedanken noch den letzten Schliff zu geben, formuliert er: „Es wäre sogar ein dankbarer Mensch vorstellbar, der in seinem Leben noch nie gedankt hat.“
Schön wird dieser Gedanke im Abschnitt „Gnade“ fortgeführt: „Als ein Akt der Willkür, unverdient und unerwartbar, entspricht der Gnade nichts als Dankbarkeit.“ Hier kann man, wenn man so will, die Stimme des Theologen hören. Das gilt auch für den Abschnitt über den „Trost“. Ausgehend vom Soziologen Georg Simmel, betrachtet er den Trost als eine Geste der Hilflosigkeit. Das Verblüffende bestehe aber darin, dass der Trost trotzdem wirke: „Der Trost ist die Hilfe der Hilflosen.“
Der umständliche Mensch
Apropos Hilflosigkeit: Unter dem Stichwort „Überforderung“ notiert er, dass dieses Wort später einmal als Überschrift für unsere Zeit dienen könne, um spitz anzufügen, wir könnten nicht sicher sein, „dass künftige Generationen noch die Gelegenheit haben werden, über diesen Titel zu befinden.“
Und das gängigste „Heilswort“ unserer Zeit sei „Effizienz“. Alles soll so glatt und so schnell wie möglich erledigt werden. Der Mensch aber, so Werner, „ist das Tier, das umständlich ist und Umstände macht.“ Und die „Kultur ist aus der Anerkenntnis gewonnen, dass das Indirekte, Verzögerte, Umwegige dauerhaft überlegen sei. Wir hörten keine Symphonie, die komponiert wäre nach der Vorgabe, die kürzeste Verbindung zu suchen zwischen erster und letzter Note.“
Denker und Sportexperte
Jürgen Werner lehrt Philosophie und Rhetorik an der Universität Witten/ Herdecke. Vorher war er eineinhalb Jahre Redakteur im Sportressort bei der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ und wechselte dann zum „FAZ-Magazin“. Damit rundet sich das Bild. Der Theologe, Philosoph und Germanist hat sich tief in die sprachlichen Alltagswelten versenkt und damit die Fähigkeit erworben, seinen analytischen Scharfsinn für die denkbar treffendsten Formulierungen zu verwenden.
Die „Tagesrationen“ sind ein Vademecum. In ihnen finden sich messerscharf formulierte Einsichten und Tiefsinn im besten Sinne des Wortes. Wer dieses Buch zur Hand nimmt, wird es nicht mehr ganz weglegen.
Jürgen Werner, Tagesrationen. Ein Alphabet des Lebens, Tertium datur, Frankfurt am Main 2014, 276 Seiten