Wer in Küsnacht am Zürichsee oder in der Nähe aufgewachsen ist, kennt das Küsnachter Tobel wahrscheinlich von einer Schulreise. Die Schlieremer Chind haben einst über dessen Geheimnisse gesungen. Ihnen, den Geheimnissen, wollte ich in der Vorweihnachtszeit nachgehen und damit meiner Kindheit einen Besuch abstatten.
Für einmal beginnt meine Wanderung vor der eigenen Haustür. Ich gehe durchs Dorf, am Gebäudekomplex aus Beton vorbei, welchem vor Jahren das alte Schulhaus weichen musste, in dem ich die ersten drei Primarklassen besucht habe, und erreiche dann jenen Ort, wo der Dorfbach aus dem tief eingeschnittenen Tobel ins Tal des Zürichsees tritt. Dieser Bach, meistens friedlich, aber sporadisch eine Bedrohung für Leib und Leben, hat seit Jahrhunderten eine wichtige Rolle für die Nutzung der Wasserkraft gespielt. Dank dem Verein für Ortsgeschichte Küsnacht, der unter seinem initiativen Präsidenten Alfred Egli das Küsnachter Jahrheft herausgibt, wissen wir Bescheid über die wechselvolle Geschichte der Mühlen entlang des Baches.
Seit Anfang des 14. Jahrhunderts steht am Tobelausgang die sogenannte Obere Mühle. Im Laufe ihrer Geschichte wurde sie immer wieder von Hochwassern zerstört, dann wieder umgebaut und erweitert. Das heutige Gebäude beherbergt das Ortsmuseum und die Musikschule Küsnacht. Quer dazu erhebt sich ein mächtiges, mehrstöckiges Fabrikgebäude, in meiner Jugend als „die Deco“ bekannt. Die um 1820 herum gebaute mechanische Spinnerei diente später unterschiedlichen Zwecken. Im Jahre 1884 kauft der Lampenfabrikant Gottfried Helbling die Fabrik. 1906 wurde daraus die Lampen- und Metallwarenfabrik Deco AG. In meiner Jugend fabrizierte die Deco kaum noch am Standort in Küsnacht. Auf dem Platz vor dem Gebäude lagerten unzählige Badewannen, ein Spielparadies für uns Kinder, wenn am Wochenende niemand auf dem Fabrikgelände war.
Für die Fabrik war die Nutzung der Wasserkraft sehr viel ausgeklügelter als einst für die Obere Mühle. Das Wasser des Dorfbaches wurde weiter oben im Tobel gefasst, in den sogenannten Deco-Weiher geleitet und von dort entlang des abschüssigen Tobelhangs bis oberhalb der Fabrik geführt, wo das Wasser in einer Druckleitung zur 17 Meter tieferen Turbine der Spinnerei gelangte.
Hinter dem alten Fabrikgebäude führt ein breiter Waldweg hinauf zum einstigen Deco-Weiher. Er wurde in den 1940er Jahren zugeschüttet. Auf dem Areal hat der Verschönerungsverein Küsnacht eine Sammlung von Findlingen aus der Eiszeit angelegt. Doch der berühmteste Findling des Küsnachter Tobels, der Alexanderstein, steht nicht dort, sondern einige hundert Meter weiter aufwärts, Nicht der Verschönerungsverein hat ihn hierher transportiert, sondern vor ungefähr 20’000 Jahren der Linthgletscher. Er brachte den mehrere hundert Tonnen schweren Koloss vom Hausstock im Glarnerland über eine Distanz von gut 70 Kilometern bis fast nach Zürich und liess ihn dann im Küsnachter Tobel liegen.
Der Findling aus Taveyannaz-Sandstein ist nach dem Zürcher Geologen Alexander Wettstein benannt, der im Sommer 1887, noch nicht 26-jährig, zusammen mit fünf Kameraden an der Jungfrau in einem Schneesturm erfror. Wer in Küsnacht aufgewachsen ist, hat bei der Besteigung des Felsbrockens seine ersten Klettererfahrungen gemacht. Ich könnte sie noch immer blindlings ertasten, die wenigen Tritte und Handgriffe, welche den „Aufstieg zum Grat“ ermöglichten. Ohne dass es damals diesen Ausdruck schon gegeben hätte: Alexander war unser Rock-Star. Er sollte gute 20’000 Jahre später weiter oben im Tobel überraschenderweise noch einen Kollegen erhalten. Doch davon später.
Nach dem Alexanderstein wird der Weg schmaler. Während der Woche trifft man weiter oben nur noch selten Leute. Kurz vor der elegant geschwungenen Brücke zur andern Bachseite warnt ein Schild vor Steinschlag. Ganz in der Nähe, dort wo ein schmaler Pfad steil von der Allmend ins Tobel hinunterführt, bin ich als Vierjähriger, zusammengerollt wie ein Murmeltier im Winterschlaf, wie mein Vater später der Mutter erzählte, über einen Grat auf den Tobelweg hinunter gestürzt, wo mich Passanten aufhielten, so dass ich nicht in den Bach fiel. Abgesehen von ein paar Schrammen hatte ich meinen Fall unbeschadet überstanden.
Ja, dieses scheinbar so friedliche Tobel: Man würde es an einem sonnigen Sonntag, wenn Familien am Bach picknicken und die Kinder mit Steinen Bachsperren bauen, nicht glauben, dass es hier auch gefährlich sein kann, nicht nur wegen den steilen Abhängen, die ich als Kind kennen gelernt habe, sondern ganz besonders wegen der Unberechenbarkeit des Wassers. Zum Beispiel so:
Am 8. Juli 1778, am Abend nach einem schwülen Sommertag, blieb über dem Pfannenstil eine grosse Gewitterzelle stehen, verursachte lokal heftige Regenfälle und liess die Bäche anschwellen. Gegen 22 Uhr wurden die nichtsahnenden Küsnachter – viele waren bereits zu Bett gegangen – in ihren Häusern von einer gewaltigen Flutwelle überrascht. Viele Häuser entlang des Dorfbaches wurden vollständig zerstört, 63 Menschen starben in den Fluten, also etwa 5 Prozent der damaligen Bevölkerung, die Aussenfraktionen der Gemeinde mitgezählt.
Fast genau hundert Jahre später, am 3. Juni 1878, kam es zu einer ähnlichen Überschwemmung. Auch diesmal waren die Schäden an den Gebäuden riesig, aber es gab nur ein einziges Todesopfer. Alarmiert durch die Kirchenglocken, konnten die Menschen ihre Häuser rechtzeitig verlassen. Nach einem weiteren Hochwasser im Jahre 1891 wurde schliesslich das Gefälle des Dorfbaches durch umfangreiche Verbauungen und den Einbau von Schwellen gebrochen. Die Naturschützer mögen das bedauern, aber ich habe Verständnis dafür, nachdem ich als Mitglied der freiwilligen Feuerwehr selber einmal ein (weit kleineres) Hochwasser miterlebt habe.
Unterdessen bin ich bei der Einmündung des Ägertenbaches angekommen. In meiner Jugend gab es hier noch eine Brücke über den Bach und einen Weg auf dem schmalen und steilen Grat hinauf zur Burgruine Wulp. Im Laufe der Jahre war dieser als Folge fortschreitender Erosion immer gefährlicher geworden, so dass die Gemeinde die Brücke schliesslich entfernte und den Weg offiziell sperrte. Ich bin ihn vor vielen Jahren noch einmal gegangen, animiert von meinem Sohn, welcher bei den Küsnachter Pfadfindern natürlich von der „verbotenen Frucht“ genascht hatte. Damals ist mein Respekt vor dem Tobel noch einmal gewachsen.
Vom Tobel zur Wulp kommt man heute sicherer und bequemer. Einen Kilometer bachaufwärts überquert man den Bach auf einer Brücke und steigt dann auf einem stielen Zickzackweg zur Ruine hinauf. Die Burg Wulp wurde Ende des 11. Jahrhunderts auf einer bewaldeten Kuppe siebzig Meter oberhalb des Tobels errichtet. Sie wurde von Rittern bewohnt, welche lieber raubten statt arbeiteten und daher bei der lokalen Bevölkerung nicht eben beliebt waren. Die Burg wurde schliesslich 1267 von den Zürchern gemeinsam mit dem Grafen Rudolf von Habsburg erobert und zerstört. In den 1920er Jahren wurden erste Grabungen durchgeführt. Heute sind die Grundmauern wieder sichtbar.
Den Wulphügel lasse ich heute rechts liegen und wende mich stattdessen dem Höhepunkt jeder Schulreise zu, der Drachenhöhle, wo der Sage nach der gefürchtete Drache wohnt, welcher für die Sturmfluten des Dorfbaches verantwortlich ist. Nicht zufällig haben die Küsnachter ihre Kirche dem Drachentöter St. Georg gewidmet.
Um ehrlich zu sein: Aus der riesigen Höhle meiner Jugend ist unterdessen ein eher mickriges Loch im Nagelfluhfelsen geworden, wobei das natürlich weniger mit geologischen Veränderungsprozessen als mit meiner eigenen Wahrnehmung zu tun hat. Und überdies frage ich mich, ob Kinder im Zeitalter von Meteo Schweiz und Greta Thurnberg überhaupt noch an den Drachen und dessen Einfluss auf Wasserfluten glauben. Ist heute nicht alles voraussehbar, das Gute und das Schlechte? Oder haben Drachen vielleicht doch nicht ganz ausgedient?
Es ist der 23. April 2013 um die Mittagszeit, ein ganz gewöhnlicher Dienstag, als ein Jogger, so stelle ich mir die Szene vor, plötzlich vor einem meterhohen Ungetüm steht, das ihm den vertrauten Weg versperrt. Ist das nun der Drachen? Der Jogger, ein Kind der Aufklärung, identifiziert den Drachen als riesigen Nagelfluhbrocken (auf 250 Tonnen wird er später geschätzt). Doch woher kam dieses Ungetüm so plötzlich? – Eine Spur geknickter Bäume und kleinere Felsbrocken weisen auf die Flanke am (in Flussrichtung gesehen) linken Tobelrand hin. Dort ist er offenbar aus der Wand gebrochen, den steilen Hang hinunter gerutscht und kurz vor dem Bach, mitten auf dem Tobelweg liegen geblieben. Niemand hatte den Absturz beobachtet, niemand war zu Schaden gekommen.
Küsnacht gewöhnte sich rasch an den neuen Rockstar. Der Gemeindepräsident persönlich regte an, ihn an Ort und Stelle zu lassen und zu dessen Namensgebung einen Wettbewerb auszuschreiben. Wegen seiner Nähe zur Drachenhöhle erhielt der jüngere Bruder des Alexandersteins den Namen „Drachenkopf“.
Ehrlich gesagt, mir hätte für den zweiten Rockstar des Küsnachter Tobels ein anderer Name besser gepasst: Tina Rock. Schliesslich wohnt Tina Turner seit langem in Küsnacht, ist Bürgerin der Gemeinde und hat dem „armen Küsnacht“ vor ein paar Jahren zur Verschönerung des Dorfes einen Weihnachtsschmuck entlang der Seestrasse geschenkt.
Lassen wir Tina und ihren Rock. Ich gehe weiter und rieche das besondere Aroma (Abwaschmittel mit einem Schuss Shampoo) des Zumiker Baches schon von weitem. Noch immer fliesst hier das „gereinigte“ Abwasser der Zumiker Kläranlage tobelwärts. Eine direkte Abwasserleitung zur Küsnachter Kläranlage ist zwar gebaut, aber offenbar noch nicht in Betrieb.
Bei der Tobelmüli verzweigt sich der Bach erneut. Rechts geht es zum Pfannenstil; ich wähle den Weg links zur Forch. Auch hier stösst man wieder auf die Spuren ehemaliger Kanäle, welche die Vorfahren für den Betrieb der alten Mühle angelegt haben. Nach einem letzten Kilometer endet dieser Bachzweig abrupt an einer Betonmauer, oberhalb welcher die Strasse von Küsnacht zur Forch verläuft. Ich bin in Wangen, einem zu Küsnacht gehörenden Weiler. Erstmals reicht mein Blick wieder über den Tobelrand hinaus, zum roten Kirchturm von Zumikon, zu dessen Füssen der Verkehr auf der Forchautobahn vorbeibraust, zur Forch und zu den Ausläufern des Pfannenstils.
Das letzte Wegstück von Wangen nach Kaltenstein führt über ein offenes Feld. Von weitem sehe ich das kleine Pumpwerk und dahinter, allein und majestätisch, eine Linde. Ihretwegen habe ich meine vorweihnachtliche Wanderroute so gewählt. Nun bereits zum fünfzehnten Mal lässt ein lokales Elektrogeschäft die Linde in der Adventzeit abends in einem fein ziselierten Licht erstrahlen, zur Freude der Anwohner und all derjenigen, welche abends im Auto oder in der Forchbahn vorbeifahren.
Bis heute die Lichter angehen, dauert es noch zu lange. Und überdies habe ich Hunger. Von der nahen Station Forch bringen mich Bahn und Bus in weniger als einer halben Stunde nach Hause. Mit dem zarten Glanz der Weihnachtslinde wünsche ich allen Leserinnen und Lesern ein frohes Fest und danke für die vielen Zuschriften, welche ich im Laufe des Jahres erhalten habe. Sie ermuntern mich dazu, auch im neuen Jahr hie und da für das Journal21 unterwegs zu sein.