Das Porträt ist die Königsdisziplin der Fotografie. Hier verbinden sich drei Elemente:
Die Fotografin oder der Fotograf müssen eine Atmosphäre schaffen, in der die Porträtierten ganz bei sich sind. Dabei spielt die Persönlichkeit des Fotografen die entscheidende Rolle: Kommt er dem Porträtierten wirklich nahe? Schliesst er ihn auf?
Als zweites müssen die Fotografen den Porträtierten in eine aussagekräftige Beziehung zu seiner Umwelt setzen oder umgekehrt sich radikal auf das Gesicht konzentrieren, wie es meisterhaft Romney Müller-Westernhagen macht.
Als Drittes kommt die technische Meisterschaft hinzu. Bei den wirklichen Könnern tritt sie so unaufdringlich in Erscheinung, dass sie kaum auffällt. Aber sie stützt die Aussagekraft eines Bildes. Eine der Ikonen des fotografischen Künstlerporträts stammt von Barbara Klemm. Sie zeigt Andy Warhol vor dem berühmten Goethebild von Tischbein. Erst bei genauerer Betrachtung erkennt man, woher die eigentümliche Magie dieses Porträts rührt: Mit dem Schärfepunkt werden ganz leicht die Hände des Künstlers betont.
Isolde Ohlbaum hat eine wunderbar diskrete und zugleich empathische Art zu fotografieren. Sie liebt Bücher und die Welt der Autorinnen und Autoren. In ihrem Nachwort schreibt sie vom „Glück, wenn uns Bücher verzaubern und das Lesen eine lebenslange Leidenschaft wird“. Jedes Buch sei, so schreibt sie weiter, „eine Reise in andere Zeiten, in andere Länder, in unbekannte Räume mit tragischen, spannenden, berührenden und auch lehrreichen Geschichten“. Überhaupt sei die literarische Welt häufig „wesentlich aufregender als die eigene Lebenswirklichkeit“.
Dieses Moment der literarischen Leidenschaft Isolde Ohlbaums ist in den Bildern stets gegenwärtig. Gute Fotografen bereiten ihre Porträtsitzungen mit grosser Sorgfalt vor. Bei Schriftstellern kennen sie zumindest deren wichtigsten Werke.
Die Zusammenstellung der Porträts enthält eine Pointe, die nicht nur Isolde Ohlbaum auszeichnet, sondern zugleich das Herz der Literatur markiert: Konstanz und Beharrlichkeit. Die Bilder stammen aus nahezu vier Jahrzehnten. Sie beginnen Anfang der 1980er Jahre und erstrecken sich bis in die Gegenwart. Dennoch sind sie sich in Schwarzweiss und Farbe stilistisch und formal sehr ähnlich, und auch technisch gibt es bei den früheren Bildern keine Defizite aus heutiger Perspektive. Da hat eine Meisterin mit Empathie, Ausdauer und Leidenschaft über Jahrzehnte gearbeitet. Gibt es ein schöneres Kompliment an die Welt der Literatur?
Einen zusätzlichen Reiz hat dieser Band durch die kurzen beigefügten Texte der Porträtierten. Diese Texte können sehr knapp sein oder länger, sie ähneln Tagebuchnotizen oder kurzen Essays, oder man findet wie zum Beispiel bei Erich Fried ein Gedicht. Man verharrt bei diesen Texten, schaut wieder auf die Porträts und spürt den Zauber, von dem Isolde Ohlbaum in ihrem Nachwort schreibt.
Dieses Buch ist wirklich eine „Liebeserklärung an die Welt der Bücher“, und sie findet im Betrachter und Leser eine starke Resonanz.
Isolde Ohlbaum: Lesen & Schreiben. Eine Liebeserklärung an die Welt der Bücher. 176 Seiten mit 125 Fotos, ars vivendi 2017