Jedes Bild ist bis ins letzte Detail sorgfältig komponiert. Zugleich bricht Lindbergh immer wieder mit unseren Seherwartungen. Sorgfältige Komposition heisst bei ihm nicht, dass die Bilder möglichst glatt und gefällig aussehen. Das Gegenteil ist der Fall. Sie wirken so, als wolle Lindbergh den Betrachter auch provozieren, indem er ihm etwas Raues zeigt.
Rätselhafte Konstellationen
Das ist keine Masche, die sich imitieren liesse. Vielmehr zeigt sich hierin Lindberghs fotografische Handschrift, mit der er Bild für Bild um einen Ausdruck gerungen hat, der ihn selbst überzeugen konnte. Zwei Jahre lang hat er intensiv an der Zusammenstellung dieser Bilder, die von den frühen 1980er Jahren bis in die Gegenwart reichen, für die Ausstellung „Untold Stories“ im Düsseldorfer Kunstpalast gearbeitet. Niemand konnte damals ahnen, dass diese Ausstellung sein fotografisches Vermächtnis werden würde. Nur zwei Tage nach Abschluss der Arbeiten verstarb Peter Lindbergh völlig unerwartet.
Was hat Lindbergh mit dem Titel, "Untold Stories", genau gemeint? Er erklärt ihn nicht, und die Bilder zeigen ganz unterschiedliche Motive. Meistens sind Menschen auf den Bildern. Die Zahl der Frauen überwiegt, aber es kommen auch Männer vor. Manchmal sind Konstellationen oder Situationen ohne Menschen abgebildet. Diese Konstellationen geben Rätsel auf, so dass man sich wünschte, ein Erzähler würde für Aufklärung sorgen.
Andere Bilder sprechen derartig für sich, dass man sie wieder und wieder betrachtet, ohne weit darüber hinaus zu fragen. Sie sind Kunstwerke, die man spontan versteht. Zumindest glaubt man das.
Unwirtliche Umwelt
Was Peter Lindbergh berühmt gemacht hat, ist seine völlig neue Interpretation der Modefotografie. Die klassische Modefotografie hat schöne Modelle mit schöner Kleidung in schönen Posen in schöner Umgebung oder aber vor mehr oder weniger reduzierten Hintergründen gezeigt. Gute Fotografinnen und Fotografen haben dabei geradezu klassische Bilder geschaffen, die im Laufe der vergangenen Jahrzehnte nichts von ihrer Faszination eingebüsst haben.
Lindbergh aber hat die gefragtesten Models aus den Studios geholt und auf die Strasse gestellt. Er zeigte sie also dort, wo auch die erhofften Kundinnen anzutreffen sein würden, wobei Lindbergh die Umgebung zumeist betont unwirtlich erscheinen liess, um die Kontraste zu verstärken und damit den ästhetischen Reiz zu erhöhen. Und die Models konnten jetzt auch trotzig, fragend oder sonst so dreinschauen wie eine ganz normale Frau im Alltag. Nicht umsonst wurde Lindbergh zu einem wichtigen Vertreter der Street Photography. Aber sein Schwerpunkt war die Mode. 1995 und 1997 wurde er als „Bester internationaler Modefotograf/The Fashion Awards“ in Paris ausgezeichnet – gewählt von einer international besetzten 400-köpfigen Jury.
Peter Lindbergh beherrschte nicht nur die hohe Kunst der Imagination verbunden mit der Fähigkeit, seine Ideen mit unglaublicher technischer Präzision umzusetzen. Er verstand es gleichzeitig, zu den Menschen, die er fotografierte, eine authentische persönliche Beziehung herzustellen. Er fotografierte nicht Models oder Mannequins, sondern Frauen mit ihrer ganzen Persönlichkeit, ihren Fragen an die Welt und an sich selbst. Im Band „Shadows on the Wall“ gibt es einige Stimmen, die diese besondere Qualität Peter Lindberghs rühmen.
„Untold Stories“ kann ja auch heissen, dass ein Mensch nie auf eine bestimmte Geschichte festgelegt werden darf. Er hat diese Geschichte, aber dahinter verbergen sich andere. Das gilt auch für Konstellationen ohne Menschen: Sie werden bei Lindbergh zum Raum für noch nicht erzählte Geschichten. Jahrzehnte hat Lindbergh an diesen Fotos gearbeitet, zwei Jahre lang hat er sie bis zur Erschöpfung gesichtet und zusammengestellt. Er hätte uns wohl noch viel zu erzählen gehabt.
Peter Lindbergh: Untold Stories. Mit Texten von Felix Krämer, Peter Lindbergh, Wim Wenders, 150 Bilder, 320 Seiten, Taschen, Köln 2020, ca. 60 Euro