So lange Sprache nur beschreibt, ist sie relativ harmlos. Man kann die Farbe eines Gebäudes mit blau angeben, und ein anderer sieht eher ein Grau. Man kann zwar darüber streiten, aber niemand zweifelt daran, dass man über die Farbe eines Gebäudes spricht, die von dem Streit selbst unberührt bleibt.
Sprache aber beschreibt nicht nur, sondern sie kann auch unmittelbar Realitäten schaffen. Wenn jemand einer Untat beschuldigt wird, dann steht diese Untat „im Raum“. Die Anschuldigung allein schafft ein Faktum. Und es ist nichts einfacher, als jemanden zu beschuldigen.
Sprachwissenschaftler haben für die Vorgänge, in denen die Sprache selbst Fakten schafft, den Ausdruck „performativ“ gefunden. Zu performativen Sprechakten gehören Versprechungen, Liebeserklärungen, Entschuldigungen, aber eben auch Beschuldigungen.
In Rechtsstaaten hat sich in den Strafprozessordnungen der Grundsatz durchgesetzt, dass ein Beschuldigter so lange als unschuldig zu gelten hat, bis ihm seine Schuld nachgewiesen worden ist. Es wird zwischen der Beschuldigung und ihrer faktischen Geltung unterschieden. Der performative Akt allein reicht nicht aus. Jemand ist nicht schon deswegen schuldig, weil er beschuldigt wird. Es gilt die Unschuldsvermutung.
Nicht erst im Zuge der #MeToo-Bewegungen wird dieser Grundsatz mehr und mehr auch in den öffentlichen Debatten über den Haufen geworfen. Diese überwiegend feministischen Bewegungen sehen in der Trennung von Anschuldigung und nachzuweisender Schuld nur eine Strategie des nach wie vor sexistischen Patriarchats, ihre Anliegen zunichte zu machen und ihnen den „Respekt“ zu versagen. Sie merken nicht, dass sie damit weit hinter die Aufklärung zurückfallen und ihr Treiben mehr und mehr an jene Hexenprozesse des Mittelalters erinnert, die die westliche Kultur für überwunden gehalten hatte.