Wissenschaftler unterschiedlicher Fachrichtungen stellen zwei Ansprüche: Sie wissen über die Gegenstände ihres Fachgebietes mehr als der Laie. Und aus ihrem Wissen folgen Prozeduren oder Handlungsanleitungen, die sich ebenfalls nicht aus dem Alltagswissen ableiten lassen.
Akademischer Schlaf
Solche Ansprüche sind nicht weltfremd. Diverse Wissenschaften erfüllen sie täglich. Man sieht das zum Beispiel an der gestiegenen Lebenserwartung. Auch die Sozialwissenschaften diagnostizieren und verändern die Welt. Aber heutzutage geschieht dies eher still, abgeschirmt und völlig anders, als es sich ihre rein akademischen Vertreter auf den überkommenen Bühnen träumen lassen. Kein Politiker kommt mehr ohne Wähleranalysen und die Verknüpfung zahlloser persönlicher Daten in Datennetzwerken aus. Der gegenwärtige amerikanische Präsident verdankt seinen Wahlerfolg auch einer Schar von Sozialwissenschaftlern, die mit ganz neuen Methoden zu Werke gehen.
Was aber geschieht an den Universitäten? Nichts Vergleichbares. Jedenfalls legt der Sammelband diesen Schluss für die Sozialwissenschaften nahe. Einer der renommiertesten ihrer Vertreter, der ehemalige Direktor des Max-Planck-Instituts für Gesellschaftsforschung in Köln, Wolfgang Streeck, schreibt in dem Sammelband: „Zu den Erstaunlichkeiten des Jahres 2016 gehört, wie Brexit und Trump nicht nur die liberale Öffentlichkeit, sondern auch ihre Sozialwissenschaften überrascht haben.“
Da möchte man einwenden: Das ist doch überhaupt keine „Erstaunlichkeit“. Denn die Sozialwissenschaften wurden schon 1989 vom Zusammenbruch des Ostens kalt erwischt. Auch da waren sie baff vor Überraschung. Das müsste eigentlich Anlass zur Überprüfung der eigenen Methoden sein. Warum tun sie es nicht und begnügen sich mit Erkenntnissen, die nicht über die der Massenmedien hinausreichen?
Verschwörung!
In den Beiträgen der „internationalen Debatte“ stechen drei Gemeinsamkeiten ins Auge: Erstens wird Donald Trump stets mit ganz ähnlichen Formulierungen als indiskutabler Präsident abqualifiziert. Diese Sichtweise wird auch auf seine Wähler übertragen, die sich ganz offensichtlich in einer „Regression“ befinden. Und drittens werden der „Neoliberalismus“ und die daran gekoppelte „Globalisierung“ als das Werk einer Verschwörung angesehen, die einzig und allein darauf abzielt, die Macht der Arbeitnehmer zu brechen und die Herrschaft des Kapitals auf alle Zeiten zu zementieren. Die Liste der Verschwörer reicht von Thatcher und Reagan über Erdogan bis Modi und natürlich Trump.
Würden sich diese Sozialwissenschaftler nicht in alten marxistisch angehauchten Denkmustern bewegen, bestünde zumindest die Chance, genauer die Mechanismen zu ergründen, die unsere Welt beherrschen. Der verstorbene Soziologe Niklas Luhmann hat das vorgeführt. Er versuchte zu beschreiben, wie die Systeme der Wirtschaft, der Verwaltungen oder der Politik funktionieren. Luhmann sah keine „Verschwörer“ am Werk, sondern Systemlogiken, die durch guten Willen allein nicht zu beeinflussen sind. Leider kommt er in dem Band nicht ein einziges Mal vor.
Wenige Highlights
Die Autoren schaffen es nur ganz selten einmal, mehr auf die Waage zu legen als wiedergekäute Zeitungsartikel. Eine der wenigen Ausnahmen ist Eva Illouz, die die gegenwärtige Politik Israels aus dem Zusammenstossen europäisch-liberaler Staatsideen mit einer religiös-ethnisch definierten Staatsbürgerschaft und der damit verbundenen übergrossen Macht der Rabbiner erklärt. Das ist erhellend.
Genauso aufschlussreich sind die Ausführungen von Arjun Appadurai über „Demokratiemüdigkeit“. Er beschreibt, wie aus Existenzangst autoritäre Führer gewählt werden, die diese Angst dazu benutzen, um die liberale Demokratie selbst abzuschaffen. Auch in anderen Beiträgen blitzen hier und da ein paar interessante Formulierungen auf. So heisst es einmal, dass man nicht international für das Selbstbestimmungsrecht auch kleinster Ethnien einstehen könne, wenn dieses in Europa in manchen Brennpunkten durch verstärkte Migration insbesondere den unteren Schichten in Bezug auf ihre Lebensgestaltung beschnitten werde.
Erschütterung
Allerdings verweist diese Beobachtung auf die schweren Defizite dieses Bandes. Durch die kapitalismuskritische Brille wird nicht gesehen, dass die Migration soziale Probleme aufwirft, an denen sich Länder wie Grossbritannien, Frankreich oder Holland schon längst die Zähne ausgebissen haben. Man lese nur einmal die Beobachtungen von Gila Lustiger, die aus ihrem eher literarisch-journalistischen Blickwinkel heraus soziale Brennpunkte in Frankreich beschreibt und dabei mehr gute Soziologie bietet als dieser Sammelband.
Überdies hat Gila Lustiger eine innere Haltung, die den allzu selbstgewissen Soziologen völlig fehlt. Sie beschreibt ihre „Erschütterung“, die die Anschläge in Paris vom 13. November 2015 ausgelöst haben. Sie fragt sich wieder und wieder, ob ihre Einstellungen und Perspektiven angemessen sind, ob sie und ihre Freunde sich nicht in Kokons eingesponnen haben.
Die Autoren des Sammelbandes sind nicht erschüttert, sondern schwelgen in der Überheblichkeit der Besserwisser. Sie wissen genau, was geschehen müsste.
Empfehlung an Jean-Claude Juncker
So schreibt David Van Reybrouck einen „offenen Brief“: „Lieber Präsident Juncker“.
Darin legt er in aller Breite dar, dass Plebiszite und Wahlen nicht wirklich demokratisch seien. Denn die Bürger seien in der Regel unzureichend informiert, zudem machten irreführende Parolen die Runde. Deswegen halte er es für unumgänglich, an die Stelle von Volksabstimmungen und Wahlen Losverfahren einzuführen. Diejenigen, die mittels der Verlosung ausgewählt seien, würden dann gut und umfassend informiert und könnten schliesslich um so kompetenter abstimmen. Die Demokratie Athens habe damit früher schon sehr gute Erfahrungen gemacht – und nicht nur Athen:
„Mal ehrlich, Herr Juncker. Sie sollten die Europäer ernst nehmen. Warum die Massen erziehen, wenn man sie doch nicht sprechen lässt? Schauen Sie nach Irland.“ Es folgt die Empfehlung, dem Beispiel Irlands, das „die innovativste Demokratie Europas“ sei, zu folgen. Denn dort gebe es schon Losverfahren. – Über diesen Tipp wird sich Herr Juncker gewiss sehr gefreut haben.
Die Absicht des Verlags
Der Sammelband ist vom Suhrkamp-Lektor Heinrich Geiselberger angeregt worden. Er hat auch das Vorwort geschrieben. Der Untertitel lautet: „Eine internationale Debatte über die geistige Situation der Zeit“. Damit ist die Absicht klar. Der Verlag möchte an zwei Sammelbände anknüpfen, die einstmals Jürgen Habermas herausgegeben hat: „Stichworte zur ‚Geistigen Situation der Zeit‘ – 1. Band: Nation und Republik. 2. Band: Politik und Kultur“. Der erste Band bildete die 1000. Folge der „edition suhrkamp“ und erschien im Oktober 1979.
Beide Bände machten damals Furore, was unter anderem damit zusammenhing, dass in der Soziologie ganz unterschiedliche Denkschulen miteinander rangen. Es ging also auch um die Deutungshoheit in Bezug auf die „geistige Situation der Zeit“. Zudem waren die beiden Bände die Vorstufe zum späteren Historikerstreit bezüglich der Singularität des Holocaust.
Gemessen daran wirkt die vorliegende „internationale Debatte“ allzu matt. Während sich die Welt dramatisch gedreht hat, drehen sich die Sozialwissenschaftler im Kreis.
Die grosse Regression. Eine internationale Debatte über die geistige Situation der Zeit. Herausgegeben von Heinrich Geiselberger, edition suhrkamp Sonderdruck, Suhrkamp Verlag Berlin 2017, 319 Seiten, 18 Euro