Lässt sich Entsetzen steigern? Mit Abu Ghraib begann im Jahre 2004 die Serie der Enthüllungen, die die amerikanische Kriegführung im Irak des letzten Rests eines humanen Anstrichs beraubte. Es folgten die ersten Dokumente von Wikileaks im April dieses Jahres, und jetzt sind dort neue Dokumente aufgetaucht, die belegen, dass sich die Entmenschlichung auch zu Beginn dieses Jahrhundert wie eine Seuche ausbreitet.
Diese Seuche ist auf keine Ethnie oder Nation beschränkt. Es sind auch nicht nur Soldaten, die Untaten begehen. Angestellte privater Gewaltunternehmen – offiziell laufen sie unter „Security“ - haben vielleicht noch weniger Hemmungen. Und wenn man versucht ist, Gewalt und Verrohung in irgendeiner Weise mit unteren Hierarchiestufen in Verbindung zu bringen, so zeigt der gerade erschienene Bericht von Eckart Conze, Norbert Frey, Peter Hayes und Moshe Zimmermann, „Das Amt und die Vergangenheit: Deutsche Diplomaten im Dritten Reich und in der Bundesrepublik“, etwas anderes.
Täter in Nadelstreifen
Die feinen Herren des deutschen diplomatischen Dienstes waren von Anfang an in die Ermordung der Juden einbezogen. Nach Beendigung des Krieges gab es im Auswärtigen Amt kaum Karrierebrüche. Das hat nicht nur den ehemaligen deutschen Aussenminister Joschka Fischer, der diese Studie in Auftrag gegeben hat, erschüttert. Die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung widmete am 24. Oktober 2010 diesem Thema das gesamte Feuilleton.
Geschichte und Gegenwart halten immer wieder dieselbe Lehre bereit: Es gibt gegen die Entmenschlichung so gut wie kein mentales Immunsystem. Jonathan Littell, der mit seinem Roman, Les Bienveillantes, Gallimard 2006, deutsch: Die Wohlgesinnten, Berlin Verlag 2008, die deutschen Verbrechen an der Ostfront seziert und damit einen Bestseller sondergleichen gelandet hat, schrieb in der Vorrede klar und deutlich, dass zwischen den Ermordeten und den Mördern kein mentaler Unterschied bestehe. Der Zufall, der das Schicksal jedes einzelnen bestimme, entscheide.
Das Stanford-Prison-Experiment
Es sind also nicht nur die Untaten an sich, die Entsetzen auslösen, sondern auch die unbequeme Wahrheit, dass die Möglichkeit dazu in jedem Menschen schlummert. Amerikanische Sozialpsychologen haben, nachdem sie als junge Menschen von den Untaten der Nazis gehört hatten, dazu Experimente gemacht. Berühmt-berüchtigt ist das Milgram-Experiment von 1961. Darin hat Stanley Milgram nachgewiesen, dass sich ganz normale Versuchspersonen aus Gehorsam gegenüber vermeintlichen Autoritäten zu Gewalt und Mord hinreissen lassen.
Mit dem Stanford-Prison-Experiment von 1971 hat der Sozialpsycholge Philip Zimbardo eine Versuchsanordnung erfunden, die bis heute für heftige Diskussionen sorgt. Dazu baute er im Keller des Psychologischen Instituts der Stanford University in Palo Alto ein Gefängnis nach. In Zeitungsannoncen suchte er Studenten, die bereit waren, gegen ein kleines Entgelt vier Wochen lang Gefängnisinsassen und Wärter zu spielen.
Innerhalb von nur einem Tag entwickelte sich eine völlig unerwartete Dynamik. Schon in der ersten Nacht drangsalierten die Wärter die Häftlinge, und die Übergriffe nahmen an Grausamkeit zu. Selbst Philip Zimbardo, der in diesem Experiment den Gefängnisdirektor spielte, konnte sich dieser Dynamik nicht mehr entziehen und alarmierte, als er von einem geplanten Ausbruchsversuch der „Häftlinge“ erfuhr, reale Gefängnisdirektoren aus Palo Alto, damit sie seine Häftlinge übernahmen. Sie liessen ihn natürlich abblitzen. Schon nach einer Woche musste das Experiment abgebrochen werden.
Wo bleibt die Verantwortung?
In einem 2009 erschienenen Buch mit dem Titel, „Der Luzifer-Effekt“, hat sich Zimbardo noch einmal ausführlich mit diesem Experiment auseinander gesetzt. Das Experiment hat ihm gezeigt, dass Menschen in ungewöhnlichem oder extremen Situationen völlig anders handeln als normalerweise und vor allem: anders, als es ihrem Selbstbild entspricht.
Die Dynamik der Situation kann so bestimmend werden, dass von der viel beschworenen Verantwortung nichts mehr übrig bleibt. Genau aus diesem Grunde hat Philip Zimbardo einen Aufseher des Gefängnisses Abu Ghraib verteidigt. 2004 sagte Zimbardo vor Gericht im Fall von Chip Frederick, einer Wache im Abu-Ghraib-Gefängnis, aus. Er argumentierte, dass Fredericks Strafe gemindert werden sollte, da sein Experiment gezeigt habe, dass nur wenige der "Atmosphäre" in einem Gefängnis widerstehen können.
Ein Vorwurf und die Entgegnung
Im März 2008 warf ihm der Moderator Stephen Sackur in der Sendung „HARDtalk“ der BBC vor, die Verantwortung des Menschen zu leugnen und mit seinem Experiment die Blaupause für Abu Ghraib geliefert zu haben. Zimbardo entgegnete, dass er die Verantwortung hoch achte, sie aber in seinen Experimenten empirisch nicht habe nachweisen können. Er werfe der amerikanischen Administration vor, verantwortungslos zu handeln, indem sie Menschen in Konstellationen bringe, die sie zu Untaten treiben.
Allem Entsetzen zum Trotz ist man gut beraten, an der Verantwortung festzuhalten. Denn wenn man sie aufgrund der Empirie leugnet, begünstigt man die Untaten. Das ist mehr als ein frommer Wunsch. Im Personality and Social Psychology Bulletin 35, 2009, haben die Psychologen Roy F. Baumeister, E.J. Masicampo und C. Nathan DeWall Experimente beschrieben, aus denen hervorgeht, dass die Leugnung des freien Willens aggressives Verhalten begünstigt.