Diese Grenzverletzung liegt im Missbrauch des Kommunikationsmittels Telefon. Denn das Telefon ist ein persönliches Medium, und entsprechend erwartet man persönliche Botschaften. Diese Eigenart der Sprache, dass ihr Kontext bereits ihren Inhalt vorsortiert, ist uns grundvertraut. Bei Lautsprecherdurchsagen am Bahnhof erwarten wir keine Kochrezepte, und wenn im Radio Zeit für die Nachrichten ist, erwarten wir keine Geburtstagsgrüsse wie bei einem Wunschkonzert.
Jemand ruft jemanden an: Der Angerufene nimmt an, dass er persönlich gemeint ist und der Anrufer eine ihn betreffende Mitteilung hat. Vielleicht wird man auch nur gebeten, jemandem etwas auszurichten, aber auch das setzt voraus, dass der Anrufer weiss, dass man denjenigen kennt und Gelegenheit haben wird, ihm etwas mitzuteilen.
Bei einem Telefonanruf stellen sich in Sekundenbruchteilen persönliche Beziehungen her. Die müssen nicht eng, vertraut oder intim sein, es genügen ein paar Schlüsselwörter, um den wechselseitigen Austausch zu starten. Und wenn man miteinander vertraut ist oder entsprechende Brücken hergestellt sind, können Telefonate sehr persönlich werden.
All das schwingt mit, wenn man das Telefon klingeln hört. Es ist buchstäblich ein «Anruf». Werber machen sich diese Erwartung oder Grundstimmung missbräuchlich zu Nutze, um ungefragt in den persönlichen Bereich des Angerufenen einzudringen. Seit einiger Zeit behaupten sie dreist, sie hätten ja vor längerer Zeit in ihrer Angelegenheit schon einmal angerufen. Auf diese Weise wird eine Pseudointimität kreiert. Zudem gerät der Angerufene in die Defensive.
Werbeunternehmen wissen allerdings, dass es für sie heikel sein kann, ungefragt in den kommunikativen Intimbereich vorzudringen. Zeitweilig haben sie versucht, ihre Werbung über SMS zu verbreiten. Dabei mussten sie aber feststellen, dass die Wirkung kontraproduktiv war. Gerade junge Leute fanden es nämlich inakzeptabel, auf dem ihnen persönlich so nahen und vertrauten Gerät unerbetene Mitteilungen von wildfremden Leuten zu lesen. Das war rufschädigend.
Werbeanrufe wiederum hinterlassen keine Spuren, wenn der Angerufene sie unwillig beendet und sich nicht die Mühe macht, den Anrufer zu eruieren. Dieser Effekt ist natürlich einkalkuliert. Zum Zynismus des Telefonmarketing gehört die Narrenfreiheit im anonymen Raum.
Bei einem Anruf reagiert man selbst dann, wenn sich jemand verwählt hat, in der Regel höflich. Bei Werbeanrufen sollte man das nicht tun. Denn man ist nicht persönlich gemeint, sondern die Werber arbeiten nur Listen ab, auf die man selbst dann gerät, wenn man ausdrücklich keine Werbeanrufe wünscht. Da ist jedes freundliche Wort zu viel. Eindringlinge wirft man schlicht und einfach hinaus.