Schon in den 1950er Jahren griff er regelmässig zur Kamera, um Motive aus dem polizeilichen Alltag festzuhalten. Dazu gehörten Verkehrsunfälle, die in der bergigen Landschaft der Schweiz bei allem Schrecken auch einen gewissen Reiz haben. Genau den hat Odermatt erfasst, indem er die Autowracks wie bizarre Skulpturen inmitten von Seenlandschaften und Bergen wie unfreiwillig entstandene, gleichwohl aber gekonnt wirkende Skulpturen erscheinen liess. Schaurig schön.
Der künstlerische Durchbruch
Überhaupt hat Arnold Odermatt einen Blick für das Hintergründige im Alltag. Aber es hat Jahrzehnte gedauert, bis der Wert dieser Arbeiten erkannt wurde. Das geschah 2001, als Harald Szeemann Arbeiten Odermatts für die „49. Biennale Venedig“ auswählte. Die Sammlung ging 2002 an das „The Art Institute of Chicago“ und 2004 an das „Fotomuseum Winterthur“. Dabei erweisen sich die „Karambolagen“, wie auch ein Buch von Odermatt heisst, als zugkräftige Motive.
Es folgten andere Bände, zum Beispiel aus dem Alltag der Polizei. Im letzten Herbst hat der Steidl Verlag einen umfangreichen Band herausgebracht, für den der Sohn, der Filmemacher Urs Odermatt, die Auswahl vorgenommen hat. Der Titel, „Feierabend“, ist zugkräftig und reizvoll, aber er trifft nur einen Teil des beeindruckenden Werkes.
Themenvielfalt
Denn der inzwischen 91-jährige Arnold Odermatt ist ein hellwacher Geist und scharfer Beobachter. In dem Band sind unendlich viele Themen versammelt: Folklore in den Schweizer Bergen, Feste, Bergbahnen, Bauernhäuser, Baustellen – insbesondere für die Tunnel und Autobahnen in Nidwalden –, Autos und immer wieder „mein Auto“, Viehmärkte, Familienfeste, Klassentreffen, jegliche Art von Porträts, Selbstporträts, Mütter, skurrile Szenen aus der Welt der Bürokratie, Polizisten, Kapellen und Beizen.
Odermatt fotografierte mit einem ethnologischen Blick, er war ein teilnehmender Beobachter. Und er achtete auf die fotografische Qualität. Die meisten Bilder sind sorgfältig komponiert, manche sogar inszeniert. Sein Sohn Urs schreibt im Vorwort, dass ein fotografierender Polizist über gewisse Vorteile verfüge. Wenn er zum Beispiel aus gestalterischen Gründen einen Autobahnstau brauche, der bis zum Horizont reiche, dann lasse sich eine Autobahn eben zeitweilig sperren, indem die Ampeln vor dem Autobahntunnel auf Rot gestellt werden.
Man sieht den Bildern an, dass Odermatt als fotografierender Polizist allgemein bekannt und wohlgelitten war. Recht früh hatte er sich eine provisorische Dunkelkammer eingerichtet, und als in Stans ein neues Gebäude bezogen wurde, war er der erste Polizeibeamte der Schweiz, dem extra ein mit allen Finessen ausgestattetes Labor zur Verfügung gestellt wurde. Die Freiheit, die damit verbunden war, verstand er meisterhaft zu nutzen. Ein paar überzählige Aufnahmen auf angefangenen Filmen liessen sich für dieses und jenes nutzen, und auf ein paar Abzüge mehr oder weniger kam es nun wirklich nicht an.
Optische Erforschung der Welt
Arnold Odermatt bekennt, dass sein grosses fotografisches Vorbild der Schweizer Magnumfotograf Werner Bischof gewesen ist. Der Zufall wollte es, dass sich die beiden auf dem Bürgenstock begegneten, als Charlie Chaplin dort war und Odermatt als Polizist für die Sicherheit sorgen musste. Bischof erbot sich an, bei den Fotos, die Odermatt trotzdem machen wollte, die Regie zu übernehmen.
Mit der Entdeckung des Werks von Arnold Odermatt bekommt die Schweizer Fotogeschichte einen ganz neuen Akzent. Zu den nicht wenigen bedeutenden Namen und Künstlern hat sich ein neuer hinzugesellt. Aber Arnold Odermatt unterscheidet sich essentiell von allen seinen grossen Kollegen. Anders als sie hat er nicht alles auf die Karte der Fotografie gesetzt, sondern er hat als Polizist nebenbei fotografiert. Dabei hat er seine Spielräume äusserst kreativ genutzt. Und viele Bilder zeigen, dass er geradezu besessen seine Kamera benutzt hat, um die Welt um sich herum optisch zu erforschen.
Welches Bild von der Schweiz ist dabei entstanden? Sind die Schweizer ein glückliches Volk? Zum Teil stellt Odermatt diese Frage in seinen Bildern explizit, wenn er zum Beispiel Hochzeiten oder Feste fotografiert. Ihm gelingt es immer, Gesichter zum Sprechen zu bringen, aber nur selten zeigt sich ungetrübtes Glück. Und das gilt auch für viele seiner Bilder aus den Ortschaften in seinem Heimatkanton Nidwalden aus den 1960er Jahren. Die schwarzweissen Bilder wirken bisweilen düster und pessimistisch. Häuser werden abgerissen und neu gebaut, Strassen und Tunnel durch die Landschaft gefräst, und man weiss nicht, ob das Segen oder Fluch ist. Ob Odermatt dabei an die Amerikabilder seines Landsmanns Robert Frank gedacht hat?
Für diejenigen, die vermuten, dass die ländliche Schweiz unmittelbar nach dem 2. Weltkrieg in gewisser Weise eine heilere Welt geboten hat, enthält der Band Fotos von besonderem Interesse. Es handelt sich dabei um Viehmärkte und Viehprämierungen in den 1950er und 1960er Jahren. Da entspinnen sich unendliche Geschichten, und man weiss nicht, wie sympathisch die Händler sind. Witzig ist, dass diese Schwarzweissbilder auf folkloristische Farbfotos aus Beckenried mit Postkartenblick über den Vierwaldstättersee in Richtung Brunnen und die Mythen folgen. Man merkt, dass dieser Band nicht ohne Bedacht zusammengestellt worden ist.
Arnold Odermatt, Feierabend – Après le boulot – After Work, Herausgegeben von Urs Odermatt, Buchgestaltung Urs Odermatt und Gerhard Steidl, 348 Seiten, 375 Fotografien / Viefarbdruck, Leineneinband mit Schutzumschlag, € 65,00