Entlang dem Schienenfeld des Hauptbahnhofs Zürich erstreckt sich auf einer Länge von etwa 650 m ein vollständig neu erstelltes Quartier, bestehend aus Restaurationsbetrieben, Firmensitzen, Ausbildungsstätten, Läden, Büros und Wohnungen. Man muss schon vor Ort die verschiedenen Achsen durchschritten haben, um die gewaltigen Dimensionen der Überbauung zu erfassen. Zur Vollendung des Clusters, der den Namen Europaallee erhielt, erschien eine informative Monografie, die insbesondere die fast unendliche Leidensgeschichte der Planung in Erinnerung ruft.
Rund 150 Jahre lang war dieses Gebiet, das von Werkstätten und Lagerhallen belegt war, nicht zugänglich. Die eigentlichen Planungen für eine komplette Restrukturierung des Hauptbahnhofs begannen 1969, als man einen Ideenwettbewerb für einen Neubau ausschrieb. Es gab sogar einen Sieger, doch danach kam Sand ins Getriebe. Nach der Jahrtausendwende war man so klug als wie zuvor, abgesehen davon, dass man 150 Millionen verschwendet hatte.
Erst als sich die SBB mit Stadt und Kanton Zürich sowie der Post zusammengeschlossen hatte, gelang der Befreiungsschlag. Man konzentrierte sich nunmehr lediglich auf das Areal zwischen Schienenfeld und Lagerstrasse und verzichtete auf die immer wieder ersehnte Gleisüberdachung. In einem Workshopverfahren erarbeiteten drei Teams zusammen mit den Baubehörden Vorschläge, aus denen 2004 der Entwurf des holländischen Architekten Kees Christiaanse als Basis für die weitere Projektierung ausgewählt wurde.
Christiaanse teilte das zur Verfügung stehende riesige Grundstück in verschiedene Baufelder ein, zwischen denen Gassen die Vernetzung mit der bestehenden Struktur herstellten. Der Öffentlichkeit wurde ein faszinierendes Modell mit Drahtfiguren präsentiert, die verschiedenfarbige Baukörper einrahmten. Innovative Gesamtüberbauungen mit hoher gestalterischer Varianz sind in Holland an etlichen Orten realisiert worden, man denke an den neuen, auf der künstlichen Insel KNSM-eiland errichteten Stadtteil in Amsterdam.
Nachdem 2006 die Ampel auf Grün geschaltet werden konnte, wurden schliesslich acht Baufelder definiert, auf denen vorwiegend aufgrund eines Wettbewerbsverfahrens die zu realisierenden Gebäude bestimmt wurden. Die Bauphase erstreckte sich über mehr als zehn Jahre. Erst in diesem Frühjahr konnte das ganze Areal mit Leben gefüllt werden. Damit ist nun der Moment gekommen, das Umgesetzte einer architekturkritischen Analyse zu unterziehen.
Wer den Bahnhof auf der Südseite verlässt, gelangt auf einen weiten Platz, vom dem aus die von Gingkobäumen gesäumte Allee keilartig in die Gebäudeschlucht dringt. Sie weitet sich jedoch nach einer Verengung wieder zum eigentlichen Hauptplatz mit einem flachen Wasserbecken aus. Hier steht die Säule des Negrellistegs, der über dem Schienenfeld die Verbindung zum Kreis 5 herstellt.
Von der Allee zweigen Seitengassen ab, die nahtlos in die bestehenden Achsen übergehen. Zusätzlich öffnen sich einige Gebäudegruppen und erlauben Passanten und Passantinnen den Zugang zu Innenhöfen. Speziell ist das an die Sihl stossende Baufeld A, das auf Erdniveau eine gedeckte Gasse mit grösseren Läden besitzt, während über diesem Erdgeschoss die Pädagogische Hochschule eigene Plätze anbietet, die über Treppen erreichbar sind.
Wie diese verkehrsfreien öffentlichen Räume schliesslich genutzt werden, ist noch abzuwarten. Von der Gesamtanlage her könnte sich hier ein buntes vielfältiges Stadtleben entwickeln. Leider sind die 76 Gingkos das einzige nennenswerte Grün inmitten von Asphalt und Natursteinböden. Es ist zu befürchten, dass man dieses Defizit mit Blumenkästen aus dem Baumarkt zu beheben versucht.
Hinter den Bauten verbergen sich grosse Namen: Caruso St John, David Chipperfield, Max Dudler, Gigon/Guyer, Wiel Arets. Man könnte demnach so etwas wie Autorenarchitektur erwarten. Dem ist aber nicht so. Der Druck der Bauherrschaft, das Areal maximal zu nutzen, hat dazu geführt, dass für Differenzierungen kaum Spielraum bestand. Wer auf dem Negrellisteg in Richtung Europaallee blickt, erfasst eine fast geschlossene Front von mittelhohen Blöcken, die auf eine ähnliche Weise mit Fenstern rasterartig perforiert sind.
Es kam mir dabei der Film «Playtime» von Jacques Tati in den Sinn, der die Kälte der einförmigen Stahl-Glas-Wolkenkratzer auf seine unnachahmliche Art und Weise kritisierte. Die Schöpfer der Gebäudegruppen in Zürich werden wohl kaum Freude haben, wenn sich solche Assoziationen einstellen. Aber es ist nicht zu übersehen, dass die zugegebenermassen sorgfältige Zeichnung der Fassaden zu wenig hergeben, um das Gesamtbild aufzulockern.
Mehr noch: Auf dem Baufeld C stossen die vier Flügel, die von Chipperfield, Dudler und Gigon/Guyer projektiert wurden, hart aufeinander und verursachen im grossen Innenhof störende Übergänge von Fassade zu Fassade. Die verhaltene Kritik von Kees Christiansen wird in der Publikation offen zugelassen. Er scheine zu bedauern, «dass es nicht mehr Widersprüche und Kontraste» gebe, und dem ist in der Tat zuzustimmen.
An anderer Stelle scheibt David Sim: «Bei den einzelnen Gebäuden findet sich, wie nicht anders zu erwarten, die strenge und etwas monotone Gestaltungslinie der Schweizer Architektur: eine Reihe grosser Schuhkartons mit relativ sterilen Fassaden.» Die nachfolgende Relativierung dieses Urteils vermag dessen Brisanz nicht abzuschwächen (die Schaufenster und Eingänge würden zum Geniessen einladen; die handwerklich hervorragend realisierte Detaillierung der Gebäude trage zum Wohlbefinden bei; es sei ein Respekt gegenüber der menschlichen Physis zu spüren).
Mehrmals wird in der Monografie auf ein besonderes Merkmal hingewiesen, auf das Konzept zwei Türme auf Sockel, was auf einer Idee von Kees Christiaanse basiere. Abgesehen davon, dass dieser Typus lediglich bei fünf der acht Baufelder verwirklicht wurde, ist er vor Ort durch die unglaubliche Dichte gar nicht eruierbar, sondern wird lediglich auf den Grundrissplänen der einzelnen Stockwerke deutlich.
Die Europaallee soll auch ein Ort des Wohnens werden, wofür nicht weniger als 400 Einheiten geschaffen wurden. Doch es ist derzeit schwer vorzustellen, wie hier Familien und ältere Personen eine Heimat finden sollten. Die Europaallee wird wahrscheinlich gutverdienende Einzelpersonen und Dinks anziehen, welche die Wohnungen lediglich als Schlafstätten benutzen.
Die vom Verlag Park Books herausgegebene Monografie besticht durch die Sammlung aller für das Verständnis notwendigen Pläne, auch wenn einige unnötige Layoutkapriolen zu erdulden sind. Die drei Fotoessays von Philip Heckhausen und von Corinna Flühmann sind insofern wohltuend, als auf astreine, kristalline Architekturaufnahmen verzichtet wird. Die Fotografen zeigen das Quartier mit Menschen und in der Vernetzung mit der bestehenden Stadtstruktur. Auf zwei Doppelseiten werden die Baufelder mit den Schriftzügen der darin einquartierten Firmen und Institutionen dargestellt, eine verblüffende Idee und eine Augenweide für an Typografie Interessierte.
Alle Fotos: Fabrizio Brentini
Monographie: SBB AG/Caspar Schärer (Hrsg.): Gemisch, Gefüge, 76 Gingkos. Europaallee Zürich. Zürich: Park Books AG, 2021. ISBN 978-3-03860-211-8, CHF 49.00.