Der erste Schnee liegt schon in der Luft, aber er fällt noch nicht. Es ist grau und kalt, über dem Zürichsee hängen schwere dunkle Wolken. Aber es besteht Hoffnung. „Ein Tenor hat Sonne in der Stimme“. Das hat der grosse Luciano Pavarotti dem damals noch sehr jungen Saimir Pirgu mit auf den Weg gegeben. Und das glaubt man sofort. Saimir Pirgu ist inzwischen arrivierter Tenor, hat wahrlich Sonne auf der Stimme und irgendwie auch im Herzen, so strahlend und gut gelaunt, wie er sich gibt.
Im Opernhaus ist gerade die Probe von „Madama Butterfly“ zu Ende gegangen. Saimir Pirgu, als „Pinkerton“ einer der Hauptdarsteller, freut sich, wieder einmal in Zürich auf der Bühne zu stehen: „Es ist ein tolles Haus.“ Allerdings: „Diesmal habe ich lange gezögert ... Dieser ‚Pinkerton‘ gefällt mir überhaupt nicht. Obwohl mir die Rolle immer wieder vorgeschlagen wurde und meine Stimme gut dazu passt, habe ich bisher immer nein gesagt. Inzwischen habe ich das Libretto genau studiert und finde vor allem die Musik sehr schön. Also habe ich bei dieser Neuproduktion jetzt zugesagt.“
Ungeliebter Pinkerton
Pinkerton, das ist in Puccinis Oper ein junger, amerikanischer Marineoffizier, der im japanischen Nagasaki stationiert ist, dort die 15-jährige Geisha Cio-Cio-San heiratet, sie dann aber sitzen lässt, um nach Amerika heimzukehren und „richtig“ zu heiraten. Zusammen mit seiner Ehefrau kommt er nach drei Jahren wieder nach Japan und will das Kind abholen, das er mit Cio-Cio-San hatte. In ihrer Verzweiflung sieht Cio-Cio- San nur noch den Tod als Ausweg. „Ich habe diese Figur immer gehasst“, sagt Saimir Pirgu. „Das einzige Mal, wo Pinkerton wirklich verliebt ist in diese junge Japanerin, das ist im Duett, und das hört man auch. Aber sonst ist es schwer, diese Person zu spielen.“
Aber Bösewichte auf der Bühne sind doch oft interessanter als die Lieben und die Netten, wende ich ein. „Das kann schon sein“, meint Pirgu. „Auch der Duca di Mantova im ‚Rigoletto‘ ist ein Böser, aber ganz anders. Der ‚Pinkerton‘ ist als Charakter schwach, es tut mir leid. Aber es ist zumindest eine neue Produktion und man kann mit dem Regisseur und mit dem Dirigenten reden, und so finden wir wohl einen Weg, den ‚Pinkerton‘ rüberzubringen. Denn wie gesagt: die Musik ist sehr schön.“
Dass er Probleme hat, diese unsympathische Person zu verkörpern, kann man Saimir Pirgu nachfühlen. Er selbst sitzt wie das pure Gegenteil des Pinkerton hier im Opernhaus: Mitte dreissig, sympathisch, gutaussehend, strahlend und freundlich. Ein cooler Typ, könnte man sagen, mit dem man gern die Zeit verbringt. „In Zürich habe ich am zweitmeisten gesungen“, sagt er und scheint sich selbst darüber zu wundern. „Ich war immer als Gast hier, nie festangestellt. Aber mehr als in Zürich habe ich nur in Wien gesungen. Nicht einmal in Italien bin ich so oft aufgetreten.“
Italien. Das ist jetzt Saimir Pirgus Heimat. Oder sagen wir: die zweite Heimat, denn eigentlich kommt er aus Albanien, wo man natürlich auch mächtig stolz auf den Sänger ist, der so erfolgreich auf den Bühnen der Welt singt. Aber fühlt er sich, als Albaner, manchmal auch ein bisschen wie ein Exot in der Opernwelt? Allzu viele Landsleute wird er wohl nicht auf der Bühne treffen. „Oh, es gibt etliche!“, widerspricht er. „Da ist zum Beispiel Klaidi Sahatci, er ist Konzertmeister im Tonhalle-Orchester und kommt aus Albanien. Bei den Wiener Philharmonikern sind es drei, bei den Berlinern, in der Scala, in München, überall sind Albaner …!“ Saimir Pirgu ist also keineswegs allein.
Von der Geige zum Gesang
Angefangen hat übrigens alles mit einer Geige. Und das war noch in Albanien. Warum aber hat er umgesattelt von der Geige zum Gesang? „Weil die Geige so schlecht war“, antwortet er spontan und lacht. „Nein, natürlich nicht. Ich hatte verschiedene Talente und war auch ein bisschen faul. Ich wollte nicht dauernd Geige üben, sondern Fussball spielen. Aus beidem wurde nichts. Stattdessen begann er ein Gesangsstudium in Bozen und wurde schnell von Claudio Abbado entdeckt. „Da hat mir die Geige dann doch geholfen, denn ohne diese Basis hätte ich nie als Zwanzigjähriger mit grossen Dirigenten wie Claudio Abbado arbeiten können.“ So aber hat er unter Abbado gleich in „Cosi fan tutte“ in Ferrara erste Erfahrungen sammeln können. Heute spielt er nur noch an Weihnachtsfeiern in der Familie Geige, zusammen mit seinem Neffen.
Abbado war aber nur der erste Schritt. Was nun folgt, ist eine Art „who is who“ der Opernwelt und reicht von A (wie Abbado) bis Z (wie Zeffirelli). „Ich hatte Glück“, sagt er ganz schlicht. „Ich war wohl immer gerade zur rechten Zeit am rechten Ort. Viele erfahrene Musiker wollten ihr Wissen und ihre Erfahrungen an junge Kollegen weitergeben, davon konnte ich profitieren.“ So kam es, dass er mit 24 Jahren unter der Leitung von Nikolaus Harnoncourt im „Idomeneo“ auftreten konnte. „Es war eine der besten Erfahrungen in meinem Leben. Wenn man als junger Sänger mit so einem Dirigenten arbeiten kann, hilft einem das sehr.“
1995 hatte er zum ersten Mal „Die drei Tenöre“, gehört, also Luciano Pavarotti, Placido Domingo und José Carreras, die damals für Furore sorgten und auch Saimir Pirgu beeindruckten. Und zu seinem Glück beruhte dies durchaus auf Gegenseitigkeit. Insbesondere Luciano Pavarotti wurde für Pirgu zum grossen Mentor und Freund. „Ich habe alles von ihm gelernt“, sagt er heute noch voller Dankbarkeit. „Ich habe bei ihm zuhause Duette mit ihm geübt, er hat die Violetta gesungen, ich den Alfredo! Man muss sich das mal vorstellen: Da kommt man aus einem kleinen Land, ist sechs Monate in Italien und arbeitet mit Pavarotti, dem besten Tenor der Welt!“
Und welche Lehre hat er sich von Pavarotti am meisten zu Herzen genommen? „Pavarotti sagte: Ein richtiger Tenor hat die Sonne in der Stimme. Er muss das Publikum berühren. Er muss nicht auf der Bühne brüllen, um dem Publikum zu zeigen, dass er die grösste Stimme der Welt hat. Stattdessen braucht seine Stimme dieses Strahlen, diese Sonnen-Qualität, Leichtigkeit und Bellezza.“
„La Bohème“ im Hochhaus
Trotzdem ging es natürlich nicht immer so ganz von selbst. „2004 hatte ich mein Debut bei den Salzburger Festspielen und ich dachte: Ha! Jetzt gehört mir die Welt! Aber dann ist nichts passiert. Erst nach zwei Jahren haben die Intendanten gemerkt, dass da ein Talent ist.“ Mittlerweile ist Saimir Pirgu zwischen Wien und London, zwischen New York und Neapel, zwischen der Arena di Verona und Berlin, zwischen Tokio und Moskau unterwegs. Aber auch Produktionen in der Schweiz wurden für ihn zu wichtigen Meilensteinen seiner Laufbahn. „Ja, ganz besonders ‚La Bohème‘ aus dem Hochhaus. Das war etwas ganz Besonderes.“
Pirgu spricht damit die Produktion des Schweizer Fernsehens an, die 2009 für Aufsehen sorgte und in vielen Ländern gezeigt wurde. „Wir haben manchmal gar nicht gewusst, was passiert, weil das Orchester zwei Kilometer entfernt war und wir im Hochhaus oder einem Busbahnhof gesungen haben. Wir haben gefragt, was passiert, wenn es technisch nicht klappt? Keine Sorge, hiess es da, dann schieben wir die Kassette mit einem Konzert von Cecilia Bartoli ein.“ Das war dann allerdings nicht nötig. Alles klappte und Saimir Pirgu war über Nacht in der ganzen Schweiz bekannt. „Es war damals wie eine Droge für mich, die Arbeit war spannend und beim Publikum ein Riesenerfolg.“
Und nun steht also die Premiere der „Madama Butterfly“ bevor. Ob Saimir Pirgu sich mit Pinkerton anfreunden wird, weiss er noch nicht. Vielleicht ein bisschen, mal sehen. Aber einen Versuch ist es doch wert.
Giacomo Puccini: Madama Butterfly, Opernhaus Zürich, Premiere am 10. Dezember.