Am 15. September 1914 erschien im „Journal de Genève“ ein Artikel, der grosses Aufsehen und heftigen Widerspruch erregte. Er trug den Titel „Au-dessus de la mêlée“ („Über dem Getümmel“) und sein Verfasser war der französische Schriftsteller Romain Rolland, der durch den Roman „Jean-Christophe“ berühmt geworden war. Im Mittelpunkt dieses lesenswerten, aber kaum mehr gelesenen Buches steht die Geschichte der Freundschaft eines jungen deutschen Komponisten zu einem Franzosen, der sich zum Dichter berufen fühlt.
Schrei der Verzweiflung im „Journal de Genève“
Das umfangreiche Werk beeindruckt noch immer durch das tiefe Verständnis seines Autors für die deutsche und die französische Kultur. An der Wende zum 20. Jahrhundert verfasst, stellt es den herausragenden literarischen Beitrag zur geistigen Annäherung zweier Nationen dar, deren Verhältnis seit dem Deutsch-Französischen Krieg von 1870/71 zerrüttet war.
Dass es gerade Romain Rolland war, der sich im „Journal de Genève“ zu Wort meldete, hatte seine innere Folgerichtigkeit. Die Hoffnung auf Aussöhnung, die der Roman „Jean-Christoph“ weckte, hatte sich verflüchtigt, und wieder standen Frankreich und Deutschland im Krieg. Am 4. August 1914 hatten deutsche Truppen die belgische Grenze überschritten, die Festung Lüttich wurde zerstört, und Brüssel wurde besetzt.
Es kam, wie immer in Kriegen, zu Gräueltaten. In der Provinz Namur wurden die Bewohner eines kleinen Dorfes, Frauen, Kinder und Greise, von den Deutschen umgebracht, und überall kam es zu Repressalien. Auch die Kulturgüter wurden nicht verschont: Die berühmte Bibliothek der Universitätsstadt Löwen ging in Flammen auf, und die Kathedrale von Reims wurde von deutscher Artillerie beschossen. Zum Zeitpunkt, da Romain Rolland seinen Artikel veröffentlichte, tobte die Schlacht an der Marne.
Intellektuelle schüren die Feindbilder
Der Erste Weltkrieg war seit Beginn begleitet von einem in diesem Ausmass neuartigen Propagandakrieg. Die Intellektuellen der kriegführenden Nationen meldeten sich in grosser Zahl zu Wort, um das eigene Land zu verteidigen und den Gegner zu beschuldigen, zu diskriminieren und zu beschimpfen. Die französische und die britische Kriegspropaganda zielten auf eine Dämonisierung der Deutschen ab, die man mit den Hunnen Attilas verglich, die im 5. Jahrhundert brandschatzend und mordend nach Westeuropa vorgestossen waren. Der Philosoph Henri Bergson sprach aus, was viele Franzosen dachten, wenn er feststellte, dass Deutschland im Begriff sei, in die Barbarei zurückzufallen.
Im Deutschen Reich vertrat der prominenteste unter den damaligen Schriftstellern, Gerhart Hauptmann, die These eines deutschen Verteidigungskrieges, der notwendig sei, um die Einkreisung des Landes zu sprengen: „Unsere geographische Lage und bedrohliche Mächte in Ost und West“, stellte er fest, „zwangen uns, für die Sicherheit unseres Landes zu sorgen.“ In einer an das Ausland gerichteten Erklärung von fast hundert prominenten deutschen Intellektuellen stand zu lesen: „Glaubt uns! Glaubt uns, dass wir diesen Kampf zu Ende kämpfen werden als ein Kulturvolk, dem das Vermächtnis eines Goethe, eines Beethoven und eines Kant ebenso heilig ist, wie sein Herd und seine Schwelle.“
Rollands seelische Verstörung
In dieser vergifteten Atmosphäre gegenseitiger Anklage und Schuldzuweisung erschien der Artikel „Au-desssus de la mêlée“. Wir wissen aus den Tagebüchern Romain Rollands, dass der Kriegsausbruch den Schriftsteller zutiefst verstörte. „Ich bin verzweifelt“, schrieb er, „am liebsten wäre ich tot. Es ist schrecklich, inmitten dieser geistesgestörten Menschheit leben und ohnmächtig dem Bankerott dieser Zivilisation beiwohnen zu müssen. Dieser europäische Krieg ist seit Jahrhunderten die grösste Katastrophe der Geschichte, das Ende der heiligsten Hoffnungen, die wir in die humane Zusammengehörigkeit der Menschen gesetzt haben“.
Es ist diese seelische Verstörung, die sich in jeder Zeile von Rollands Zeitungsartikel ausdrückt. Der Schriftsteller begreift den Krieg nicht als militärische Auseinandersetzung zwischen Konfliktparteien mit ihren mehr oder weniger begründbaren Interessen und Ansprüchen, sondern als eine Menschheitskatastrophe, welche die humanitären Werte europäischer Kultur zu zerstören und damit allen Beteiligten Schaden zuzufügen drohte. Einleitend wendet sich Rolland an die jungen Menschen, die er begeistert in den Kampf ziehen sieht. Ihr Heroismus und ihre Tatkraft, stellt er fest, verlange nach edleren Aufgaben als derjenigen, ihre Mitmenschen umzubringen.
Anklage gegen Christentum und Sozialismus
Der Schriftsteller geisselt die allgemeine Kriegsbegeisterung der Grossmächte und den hasserfüllten Chauvinismus, der selbst die gesellschaftlichen Eliten in moralisch und staatsbürgerlich verantwortlicher Stellung erfasst habe. Wie eine Epidemie habe sich diese Kriegshysterie ausgebreitet, und niemand habe sich ihr im Namen des Glaubens oder der Vernunft entgegengestellt. Besonders zwei moralische Instanzen, Christentum und Sozialismus hätten völlig versagt. „Die ansteckende Krankheit dieses Krieges“, schreibt Rolland, „hat die Schwäche des Christentums und des Sozialismus offenbart. Aus den Aposteln des christlichen und des sozialen Internationalismus sind mit einem Mal glühende Nationalisten geworden.“
Den deutschen Sozialisten wirft Rolland vor, unglaubwürdig zu sein, weil sie im Reichstag für die Gewährung der Kriegskredite eingetreten seien und damit das undemokratische Regime des Kaisers unterstützt hätten. An den Geistlichen übt er scharfe Kritik, weil sie zu Tausenden ins Feld zögen und sich von Gott den Sieg ihrer Waffen erflehten.
„Dieses Monstrum mit hundert Köpfen“
Der wahre Feind, stellt Romain Rolland fest, stehe nicht ausserhalb der Grenzen, sondern lauere im Innern der kriegführenden Staaten selbst, aber es fehle an der Courage, diesen Feind zu bekämpfen. „Dieses Monstrum mit hundert Köpfen“, schreibt er, „nennt sich Imperialismus. Es ist dieser ehrgeizige Wille zur Herrschaft, der alles aufsaugen, sich unterwerfen oder zerbrechen will und keine freiheitliche Macht neben sich selbst duldet.“
Romain Rolland ist sich bewusst, dass mit dem Kriegsausbruch das Unheil schon eingetreten ist. „Der Sturzbach“, schreibt er, ist entfesselt worden, und wir allein werden ihn nicht in sein Bett zurückführen können. Zu grosse Verbrechen sind bereits begangen worden, Verbrechen gegen das Recht, Attentate gegen die Freiheit der Völker und ihr geistiges Erbe. Aber diese Schäden müssen und werden behoben werden.“ Keinesfalls dürfe man sich, fährt der Schriftsteller fort, zur Rache am besiegten Gegner verleiten lassen: „Ein grosses Volk nimmt nicht Rache, sondern stellt die rechtliche Ordnung wieder her.“
Vordenker des Völkerbundes
Romain Rolland tritt für die Schaffung eines „Tribunals des Gewissens“ ein, das nach dem Krieg über die Einhaltung der Menschenrechte zu wachen habe und Verstösse, von welcher Seite sie auch kämen, strafrechtlich zu verfolgen habe; dazu eigne sich ein neutrales Land am besten. Zweifellos dachte der Schriftsteller, der sich zum Zeit Schweiz. Sein Gedanke sollte mit der Gründung des Völkerbundes, der 1920 seine Arbeit in Genf aufnahm, auch realisiert werden.
„Ich weiss“, schloss Romain Rolland seine Ausführungen, „dass solchen Gedanken heute kaum Gehör geschenkt wird. Das junge Europa, von der Fieberhitze des Kampfes erfasst, wird mich bloss herablassend belächeln und seine jungen Wolfszähne zeigen.“ Und in der Tat: Mit seinem Artikel für das „Journal de Genève“ machte sich der Schriftsteller keine Freunde. Gut möglich, dass der Text, zwei Jahre später publiziert, eine ganz andere Wirkung gehabt hätte. Aber im Zeitpunkt der frühen Kriegsbegeisterung und der ersten kriegerischen Zusammenstösse erschien Rollands Stellungnahme vielen Franzosen als Ausdruck des Defaitismus, ja als Landesverrat.
Hass und Ablehnung - dann der Nobelpreis
Auch in Deutschland war das Echo ablehnend, umso mehr, als der Zeitungsartikel den „preussischen Imperialismus“ scharf angegriffen hatte. Einer von Rollands wenigen verbliebenen Freunden, Stefan Zweig, schreibt in seinen Memoiren „Die Welt von Gestern“: „Über Nacht war Rolland von seinen ältesten Freunden boykottiert, die Buchhändler wagten den ‚Jean-Christophe‘ nicht mehr in die Auslagen zu stellen, die Militärbehörden, die den Hass brauchten zur Stimulierug der Soldaten, erwogen bereits Massnahmen gegen ihn...“ Romain Rolland fühlte sich einsam und verlassen. „Ich fühle den Hass“, notierte er im Tagebuch, "der sich in Frankreich gegen mich erhebt. Dabei habe ich nichts anderes getan, als humane Worte zu äussern und eine gemässigte Haltung ohne Lärm und Hass zu vertreten.“
An seiner Haltung, sich „über das Getümmel“ zu stellen, statt Hass zu predigen, hielt Romain Rolland in weiteren Zeitungsartikeln, die im nächsten Jahr in einer Broschüre gesammelt wurden, fest. Teile dieser Artikel wurden in verschiedene Sprachen übersetzt und trotz Zensurmassnahmen auch in Frankreich verbreitet. Obwohl von der kleinen Minderheit von Pazifisten bewundert, war Rolland selbst kein radikaler Pazifist. Aus seinen Artikeln geht hervor, dass er die Hauptschuld am Kriegsausbruch beim Deutschen Reich sah und sich den Sieg der westlichen Alliierten wünschte.
Die Kritik am Schriftsteller ging erst dann allmählich zurück, als Romain Rolland im Jahre 1915 der Nobelpreis zuerkannt wurde und die anfängliche Kriegsbegeisterung der Kriegsmüdigkeit wich.
Als Kommunismus-Sympathisant gegen den Hitler-Stalin-Pakt
Während des Krieges und in der Zwischenkriegszeit lebte Romain Rolland in der Schweiz. Er war zur international geachteten Persönlichkeit geworden. Politisch näherte er sich dem Kommunismus und besuchte 1935 die Sowjetunion. Gemeinsam mit Henri Barbusse rief er, als sich in Deutschland Unheil anbahnte, zu einem Antikriegskongress auf, der 1932 in Amsterdam stattfand. Im Alter liess er sich in einem „haut lieu“ der französischen Kulturgeschichte, in Vézelay, nieder und schrieb Biografien über Mahatma Gandhi und Beethoven.
Hitler-Deutschland erkannte er frühzeitig als die Bedrohung, die es war, und enttäuschte seine pazifistischen wie kommunistischen Freunde, als er das Münchner Abkommen von 1938 ebenso entschieden ablehnte wie den Hitler-Stalin-Pakt im selben Jahr. Über all die Jahre hin verfolgte er aufmerksam das Zeitgeschehen und führte ein Tagebuch – ein hoch interessantes Zeitdokument. Darin lässt sich unter dem 2. Januar 1944 etwa lesen: „Hitlers Deutschland betreibt mit kalter Grausamkeit die totale Zerstörung zweier Völker: des jüdischen und des deutschen Volkes.“ Wie merkwürdig, dass man in dem kleinen burgundischen Dorf mit seiner grossen Kathederale wissen konnte, was vielen politischen Kommentatoren verborgen blieb.
Romain Rolland erlebte die Befreiung seines Landes von deutscher Fremdherschafft noch, nicht aber das Ende des Krieges. Er verstarb am 30. Dezember 1944 in Vézelay. Eine Sammlung seiner Artikel wurde 1946 unter dem Titel „Der freie Geist“ ins Deutsche übersetzt. Eine französische Neuauflage erschien kürzlich im Verlag Payot.