Manche Fotos von Andreas Gursky täuschen den ersten Blick. Sie sind keine Dokumente im herkömmlichen Sinn. Erst bei genauerem Hinschauen zeigt sich, dass es sich bei ihnen jeweils um die kunstvolle Zusammenfügung zahlreicher Fotos vom selben Motiv handelt. Man blickt also auf ein Ensemble, nicht auf eine einzelne Aufnahme.
Es gibt andere Bilder, wie das Arrangement von bundesdeutschen Politikern rund um das Zentrum Merkel/Spahn, bei denen ganz offensichtlich ist, dass es sich um eine Zusammenstellung handelt. Und wie um dieser Komposition noch eine zusätzliche Pointe zu verleihen, hat Gursky noch eine Uhr in den oberen Teil eingefügt, die fünf vor eins zeigt. Schon längst hat es also zwölf geschlagen, im Grunde ist alles schon zu spät, aber der Politikbetrieb lässt sich dadurch nicht stören.
Grosse Stimmigkeit
Ist das noch Fotografie oder schon etwas anderes? Jedenfalls überschreitet Andreas Gursky die Grenzen der bisherigen Fotografie mit den Mitteln der Fotografie. Er steigert eine Aussage, die ein einzelnes Bild nicht so prägnant hergibt, wie er es will, indem er Bilder zusammenstellt und miteinander verbindet. Dass ihm dies gelingt, teilt sich dem Betrachter als Eindruck grosser Stimmigkeit mit.
Diese Stimmigkeit hängt mit dem Werdegang Andreas Gurskys zusammen. Er stammt aus einer Fotografenfamilie und wurde in Leipzig geboren. Die jetzige Ausstellung im «Museum der bildenden Künste» in Leipzig würdigt mit etwa 60 Werken nicht nur Andreas Gursky, sondern verweist auch auf Werke seines Grossvaters und Vaters.
1955 zog die Familie in den Westen, und sein Vater konnte sich als erfolgreicher Werbefotograf etablieren. 1980 wurde Andreas Gursky in Düsseldorf an der Kunstakademie aufgenommen und trat der Klasse von Bernd und Hilla Becher bei, die als «Düsseldorfer Fotoschule» berühmt werden sollte.
Bernd und Hilla Becher haben mit ihren akribischen Bildern von industriellen Bauten wie Bergwerken, Fördertürmen oder Fabriken Massstäbe gesetzt. Alle Bilder sind mit grösster Sorgsamkeit komponiert. Das scheinbar Banale bekommt auf diese Weise etwas Monumentales. Mit seinen ersten Arbeiten steht Andreas Gursky ganz in dieser fotografischen Sichtweise.
Diese Anfänge zeigen sich bis heute in der grossen Bedeutung, die die grafische Komposition der Bilder von Andreas Gursky hat. Einige Bilder lassen sich auch nur verstehen, indem man in ihnen die Grafik erkennt. Erst dann öffnet sich der Blick für die inhaltlichen Details.
In seiner weiteren Entwicklung hat sich Gursky mit einem Thema beschäftigt, das sich unter anspruchsvollen Fotografen nicht der grössten Beliebtheit erfreute: die digitale Technik. Gursky erkannte die völlig neuen Möglichkeiten und hatte keine Scheu, sie einzusetzen. Damit vollzog er den Schritt, wie Kritiker und Kuratoren bemerken, ins «Hyper-Reale».
Das Bild «Kreuzfahrt 2020» kann wie ein bitterer Kommentar zur Gegenwart verstanden werden. Die «Norwegian Rhapsodie» ist mittschiffs perfekt und detailreich abgebildet. Eine bewundernswerte Ferienmaschine. Aber in der Abbildung sieht man keinen einzigen Menschen. Das macht frösteln.
Zu der Ausstellung im «Museum der bildenden Künste» in Leipzig, die bis zum 22. August 2021 dauert, ist ein von Andreas Gursky selbst herausgegebener Bildband erschienen.
«2020. Andreas Gursky», Künstlerbuch herausgegeben von Andreas Gursky, 188 Seiten, 57 Bildtafeln, 89 Euro