Die sunnitische Stadt Ramadi ist nach langhingezogenen Kämpfen von der irakischen Armee zurückerobert und dem IS entrissen worden. Die Frage, ob und wie ihre geflohenen Bewohner zurückkehren können, wird für das Zusammenleben der beiden islamischen Konfessionen des Iraks von grosser Bedeutung sein.
Als die Stadt Ramadi im Mai 2015 überraschend vom IS erobert worden war, erklärten der Verteidigungsminister und die Armeespitzen von Bagdad, sie würden die Stadt in den nächsten drei Tagen zurückerobern. Nun, gute sieben Monate später, ist dies wirklich geschehen. Dass die Rückeroberung so lange Zeit brauchte, ist auf die zähe Verteidigung durch den IS zurückzuführen, aber auch dadurch begründet, dass die wirksamsten Kämpfer, die für die Regierung in Bagdad eintraten, lange Zeit nicht jene der Armee waren sondern die in den südlichen Landesteilen aufgebotenen schiitischen Milizen. Diese Milizen hatten sich auf Aufruf der schiitischen Geistlichen zusammengefunden, um ihre Landesteile gegen den IS zu verteidigen. Die Armee war im Gegensatz zu den Milizen demoralisiert durch ihre katastrophale Niederlage in Mosul vom Jahr zuvor (Juni 2014), und viele ihrer Offiziere galten als korrupt. Ihre früheren Generale waren entlassen worden.
Anti-sunnitische Vorfälle von Tikrit als Schatten
Im vergangenen Frühjahr, kurz vor dem Verlust Ramadis, war es den Milizen – unterstützt durch Kampfflugzeuge der amerikanischen Koalition – gelungen, die Stadt Tikrit vom IS zurückzugewinnen. Doch die Milizen, welche Tikrit und zuvor schon andere dem IS entrungene Teilgebiete in der Provinz Diyala zurück gewannen, liessen sich Überriffe gegen die dortige Zivilbevölkerung zu Schulden kommen. Da es sich bei diesen vom IS befreiten Bevölkerungsgruppen um Sunniten handelte, wurden sie von manchen der Milizkommandanten unter Generalverdacht gestellt, sie hätten dem IS geholfen.
Der IS gibt sich selbst als Feind der Schiiten und Verteidiger der Sunniten. Sunnitische Zivilisten, die während der Kämpfe aus ihren Heimatorten geflohen waren, wurden in vielen Fällen an der Rückkehr gehindert, weil die erobernden schiitischen Milizen sie verdächtigten, mit dem IS zusammengearbeitet zu haben.
Es kam auch zu Plünderungen von Häusern und Geschäften, die Sunniten gehörten. Berichte darüber breiteten sich aus, und viele Bewohner Tikrits sowie umliegender Siedlungen zögerten, nach Hause zurückzukehren. Dies wiederum setzte sie Verdächtigungen von schiitischer Seite aus. „Sie müssen etwas verschuldet haben,“ urteilten die Schiiten, „wenn sie fliehen und nun nicht mehr zurückkehren wollen.“
Armee als angeblich neutrale Kraft
Die Amerikaner sind überzeugt, dass der Irak nur dann erfolgreich gegen den IS wird vorgehen können, wenn es Bagdad gelingt, von Sunniten und Schiiten gleichermassen als legitime Regierung anerkannt zu werden. Wenn dies misslingt, wächst die Gefahr, dass der IS als der Vertreter und Sachwalter aller irakischen Sunniten (abgesehen von den Kurden) auftreten kann.
Aus diesen Gründen traten die Amerikaner in Bagdad dafür ein, dass bei der Rückeroberung von Ramadi die irakische Armee die Hauptrolle spiele, nicht die schiitischen Milizen. Ministerpräsident Haidar al-Abadi war einverstanden. Doch im irakischen Parlament sitzen viele Abgeordnete aus den südlichen Landesteilen, die mit den Milizen sympathisieren.
Schiitische und sunnitische Mobilisierung
Diese schiitischen Milizen werden in ihrer Gesamtheit die „Volksmobilisation“ genannt. Nicht weniger als dreissig verschiedene Organisationen sind bekannt, die alle unter der Bezeichnung „Brigaden“ laufen und je ihre eigenen Anführer besitzen. Unter ihnen gibt es solche, die von der schiitischen Geistlichkeit und deren oberstem Ayatullah, Sistani, mobilisiert worden sind und finanziert werden. Sie treten ein für Erhaltung des irakischen Staates mit seinen beiden islamischen Konfessionen (Sunniten und Schiiten) und seinen beiden Staatsvölkern (Arabern und Kurden).
Daneben gibt es auch potente Milizen, die von Iran gestützt werden. Die wichtigste ist die Badr Miliz, angeführt von Parteigängern des iranischen Schiismus und ursprüglich gegründet 1982 in Teheran von Geistlichen der Hakim Familie. Diese war von den Schergen Saddams dezimiert worden, und ihre Überlebenden hatten während des Krieges gegen Iran (1980-1988) in Iran Zuflucht gefunden. Die Badr Brigade steht heute unter dem Kommando von Hadi al-Ameri.
Auch ihre pro-iranische Ausrichtung hat Stützen im Parlament von Bagdad. Ihre Anhänger neigen dazu, nach den Rückeroberungen durch „schiitisches Blut“ auch dafür zu sorgen, dass die eroberten Gebiete schiitisch werden, und die Sunniten aus ihnen verschwinden. Weshalb manche Bewohner von Mosul, die heute unter der Fuchtel des IS zu leben, lieber nicht von schiitischen Milizen befreit werden möchten. Sie fürchten, durch sie vom Regen in die Traufe zu kommen, und natürlich bestärkt die Propaganda von IS solche Befürchtungen.
Sunnitische Rückeroberung erwünscht
Auch Ramadi, Hauptstadt der weiten Wüstenprovinz Anbar, war eine sunnitische Stadt. Die Amerikaner warnten mehrmals, ihre Luftunterstützung werde nur gewährt werden, wenn zur Wiedereroberung von Ramadi die irakische Armee eingesetzt werde, nicht die Schiitenmilizen. Dennoch haben die Milizen mitgewirkt bei der langsamen Inbesitznahme der dörflichen Siedlungen rund um Ramadi, welche dem eigentlichen Eroberungsstoss in die Stadt selbst (besser gesagt: in deren Ruinen) vorausgingen. Der Anführer der Badr Miliz hat schon gewarnt, die wichtige Rolle, welche seine Miliz bei der Rückeroberung gespielt habe, dürfe nicht übergangen werden.
Die Armee hat nach den Aussagen ihres Sprechers noch einige Quartiere der Stadt zu reinigen und vor allem die Minen zu beseitigen, die der IS bei seinem Abzug zu hinterlegen pflegt. Dann kommt die Frage, ob und mit wie viel staatlicher Hilfe die bisherige Bevölkerung Ramadis in die Stadt zurückkehren kann. Der irakische Staat ist nicht mehr so reich wie in früheren Jahren, weil der Erdölpreis auf weniger als die Hälfte abgesunken ist. Es wird für ihn schon daher nicht leicht sein, den Wiederaufbau zügig voranzubringen. Doch wenn dieser sich verzögert, besteht die Gefahr, dass die Sunniten sich einmal mehr durch die Schiiten übergangen und vernachlässigt fühlen.
Parlament begünstigt die Schi'a
Der Plan, eine sunnitische Heimmiliz aufzustellen und zu bewaffnen, den die Amerikaner befürworteten und Ministerpräsident Abadi unterstützte, ist vom Parlament zurückgewiesen worden. Dort herrschten bei der schiitischen Mehrheit Befürchtungen, dass Waffen in sunnitischen Händen am Ende gegen die Schiiten gebraucht werden könnten. Wenn nun auch die staatlichen Gelder für die Sunniten von Ramadi nicht fliessen, wird dies dies all jene Kräfte fördern, die Konfrontationen zwischen den beiden islamischen Konfessionen als einen unvermeidlichen Dauerkrieg ansehen. Saudi-Arabien gehört heute führend zu diesen Kräften.