Exakt 24 Jahre nachdem er Vietnams Unabhängigkeit proklamiert hatte, am 2. September 1969, starb in Hanoi der Mann, den die Welt unter dem Namen Ho Chi Minh kannte: Der, der erleuchtet. 22’000 Beileidsbekundungen an das vietnamesische Volk aus 121 Ländern trafen in Hanoi ein. „Ein grosser Sohn des heroischen vietnamesischen Volkes, der herausragende Führer der kommunistischen Internationale und der nationalen Befreiungsbewegung sowie ein grosser Freund der Sowjetunion“, rühmte ihn das offizielle Moskau. Aus Ländern der Dritten Welt trafen Hymnen auf seine Rolle als Verteidiger der Unterdrückten ein. Eine indische Zeitung beschrieb ihn als „die Verkörperung der brennenden Sehnsucht nach Freiheit, der Ausdauer und des Kampfes“. Andere hoben seine Einfachheit und sein hohes moralisches Ansehen hervor. „Er hatte ein Herz so unermesslich wie das Universum und eine grenzenlose Liebe für die Kinder“, schrieb eine Zeitung in Montevideo.
Der, der sein Ziel erreichen wird
Zwar fielen die Nachrufe in den westlichen Industriestaaten zurückhaltender aus, doch auch dort räumte man ein, dass er trotz seines Rufes als engagierter Revolutionär und kommunistischer Agentenveteran, ein Pragmatiker und Mann von Welt gewesen sei, der die Komplexität der internationalen Politik verstand und entsprechend gehandelt habe. Selbst US-Präsident Lyndon B. Johnson, vermutlich sein erbittertster Gegner, bemerkte gelegentlich frustiert, wenn er sich nur einmal mit „Old Ho“ zusammensetzen könne, dann könnten sie sicher irgendwie zu einer Verständigung kommen.
Seine Gegner werfen dem ehemaligen Agenten der kommunistischen Komintern und Architekten des Sieges des vietnamesischen Volkes über Kolonialismus und imperiale Ambitionen bis heute vor, fünf Jahrzehnte für die kommunistische Weltrevolution gearbeitet und im Dienste Stalins gestanden zu haben. Für Gegner der amerikanischen Südostasienpolitik hingegen war er schlichtweg ein Patriot, der den Unabhängikeitskampf seines Volkes führte und stets entschieden gegen den globalen Imperialismus und für die Völker der Dritten Welt eintrat.
Karl Marx und Konfuzius
Seine Nachfolger in Hanoi betonen, das Ziel seiner langen Laufbahn sei immer gewesen, das globale System kapitalistischer Ausbeutung abzuschaffen und eine neue revolutionäre, von der utopischen Vision Karl Marx’ geleitete Welt zu schaffen. Wieder andere, die seinen Pragmatismus und Humanismus hervorhoben, beschrieben seine Entschlossenheit, die ehernen Gesetze des Marx’schen Klassenkampfes mit der konfuzianischen Lehre und den französischen Revolutionsidealen von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit zu verbinden und zu mildern.
Er war am 19. Mai 1890 in dem kleinen Ort Hoang Tru in der Nghe An-Provinz geboren worden. Im Laufe seines Lebens sollte er unter so vielen Pseudonymen operiert haben, dass am Ende nur noch wenige seinen Geburtsnamen, Nguyen Sinh Cung, oder den Namen, den er in konfuzianischer Tradition beim Eintritt in die Pubertät erhielt, kannten. Mit nahezu prophetischer Voraussicht hatte ihm sein Vater, als er elf Jahre alt war, den Namen Nguyen Tat Thanh gegeben: „Der, der sein Ziel erreichen wird“. Schon im frühesten Alter erfuhr er die Erniedrigungen und Demütigungen französischer Kolonialpolitik. Sie entlarvten die von Paris verbreitete Behauptung, in Indochina eine „mission civilisatrice“ zu erfüllen, als blanke Lüge.
Lehr- und Wanderjahre
Darum lehrten ihn seine einheimischen Lehrer nicht nur die konfuzianischen Tugenden, sondern impften ihm auch einen leidenschaftlichen Patriotismus ein. Beim Dorfschmied lernte er nebenbei auch noch die Arbeit am Amboss und an der Esse. Seine Lehrer, später auch an der Nationalakademie in Hué, beschrieben ihn stets als, klug, lern- und wissbegierig. Er las Voltaire, Montesquieu und Rousseau und vermittelte deren Ideen auch seinen Kommilitonen und Mitschülern. Angeblich kam Thanh schon in jenen Jahren mit lokalen Widerstandsgruppen in Kontakt und agitierte gegen steigende Steuern, Zwangs- und Corvéearbeit und Korruption unter dem französischen Regime.
Nach Lehr- und Wanderjahren, die ihn nach Afrika, Indien, in den Nahen Osten und die USA führten, kam er gegen Ende des Errsten Weltkrieges in Frankreich an, wo er sich schnell einen Namen nicht nur unter den 50’000 in Frankreich lebenden Vietnamesen machte. Er schloss sich der Sozialistischen Partei Frankreichs an, verkehrte mit Persönlichkeiten wie dem späteren Präsidenten Léon Blum, dem Schriftsteller Henri Barbusse oder Karl Marx’ Enkel Jean Longuet und las Schriften wie Lenins „Thesen zur nationalen und kolonialen Frage“. Mit seiner Agitation, seinen Schriften, Reden, Zeitungsartikeln und Briefen, die er gerne unter dem Pseudonym Nguyen Ai Quoc (Nguyen, der Patriot) veröffentlichte, machte er sich bald bei den Sicherheitsbehörden verdächtig, die ihn fortan unter Beobachtung stellten, bis er ihnen nach Moskau entkam.
Zurück in der Heimat
Ausreichend geschult traf er 1924 im Auftrag der Komintern in Kanton ein, wo er sogleich mit dem Aufbau revolutionärer Befreiungsbewegungen begann. Doch erst der Zweite Weltkrieg und vor allem die antikoloniale Haltung der Regierung der Vereinigten Staaten schienen den Befreiungskampf Vietnams möglich zu machen. Darum kehrte er 1941 nach Vietnam zurück und gründete dort die „Liga für die Unabhängigkeit Vietnams“ (Viet Minh) für den Kampf gegen die japanischen Besatzer und die Vichy-Franzosen und nach dem Ende des Weltkrieges gegen die zurückkehrenden französischen Kolonialtruppen.
Entgegen seiner Erwartungen zahlte sich die enge Zusammenarbeit mit dem amerikanischen Geheimdienst OSS während des Pazifikkrieges für Ho Chi Minh und seine Mitstreiter nicht aus. Damals, als der Feind noch Japan geheissen hatte, waren es die kommunistischen Vietminh gewesen, die mit dem amerikanischen OSS zusammenarbeiteten, um über Indochina abgeschossene US-Piloten zu retten. In Anerkennung für seine Verdienste hatte der Geheimdienst Onkel Ho sogar zum OSS-Agenten 19 mit dem Decknamen Lucius ernannt.
Teilung Vietnams
Der Kalte Krieg verschärfte sich, und die USA waren nun weniger an der Befreiung afrikanischer oder asiatischer Völker vom kolonialen Joch interessiert als an antikommunistischen Bollwerken. Amerika glaubte, seine Sicherheit auch in den entlegensten Winkeln der Erde gegen den expandierenden Kommunismus verteidigen zu müssen. (Selbst Winston Churchill widersprach dieser Auffassung und betonte, Moskau halte sich strikt an die Abkommen von Jalta und Potsdam, auf denen Roosevelt und Stalin die amerikanischen und sowjetischen Einflusssphären vereinbart hatten.) So stellten sich die USA, zunächst noch zögernd, mit der zunehmenden Verschärfung des Konfliktes, bald aber mit wachsendem Enthusiasmus auf die Seite der Kolonialmacht, und übernahmen schliesslich weitgehend die Initiative von den Franzosen. (Bereits 1953 holten französische Generäle für ihre Operationspläne die Genehmigung der amerikanischen Joint Chiefs of Staff ein.)
Ho Chi Minh sah ein, dass der „Frieden nur als Ergebnis eines Sieges erreicht“ werden könne. Unterstützt von chinesischen Verbänden gelang es Ho Chi Minhs Soldaten, die französischen Besatzungstruppen und ihre amerikanischen Verbündeten mit der Einnahme der Festung von Dien Bien Phu, die den Zugang nach Laos kontrollierte, vernichtend zu schlagen, während in Genf neben Frankreich und den Vietnminh Grossbritannien, die UdSSR, die USA und die VR China die Teilung des Landes entlang des 17. Breitengrades beschlossen. Weil vor allem Washington die dort ausgehandelten Vereinbarungen, im Juli 1956 Wahlen in ganz Vietnam abzuhalten, nicht einhielt (die US-Regierung befürchtete einen sicheren Sieg Ho Chi Minhs), sollten diese Wahlen durchgeführt werden. So blieb das Land zwanzig Jahre lang geteilt in die Demokratische Republik Vietnam im Norden und die Republik Vietnam im Süden.
Die Vereinigung des Landes
Präsident Ho Chi Minh führte im Norden diverse Landwirtschaftsreformen durch (in deren Verlauf über 13’000 Dorfälteste hingerichtet wurden), gründete die Nationale Befreiungsfront Südvietnams und setzte sich im Politbüro mit seinen Forderungen durch, zur Unterstützung der Guerillaverbände des Vietcong reguläre Armeeeinheiten der Republik in den Süden zu entsenden, um in einem „Volkskrieg“ die Befreiung Südvietnams und die Wiedervereinigung der beiden Teile des Landes zu erreichen. Nordvietnamesische Truppen marschierten zur Unterstützung der Pathet Lao, die in ihrem Land ebenfalls für eine sozialistische Gesellschaft kämpften, in Laos ein und schlugen den sogenannten Ho-Chi-Minh-Pfad durch den laotischen und kambodschanischen Dschungel, über den fortan Truppen und Material ins Kampfgebiet im Süden transportiert wurden.
Den Frieden und die Vereinigung seines Landes erlebte Ho Chi Minh nicht mehr. Er erlag einem Herzversagen. 100’000 strömten am 8. September 1969 zu den Beerdigungsfeierlichkeiten auf Hanois Ba-Dinh-Platz, wo Le Duan, seit 1960 sein Nachfolger als Parteichef, das Versprechen der Parteiführung gab, Ho Chi Minhs innigsten Wunsch zu erfüllen, den US-Aggressor zu besiegen und das Land zu vereinen.
Nach dem Pariser Friedensabkommen und dem Abzug der US-Verbände starteten Hanois Truppen und die Vietcong Anfang 1975 eine Offensive, die endlich den Sieg bringen sollte. Am 30. April rückten nordvietnamesische Panzer, geschmückt mit Bannern „Du marschierst immer noch mit uns, Onkel Ho“, in Saigon ein. „Sie wurden von einem Mann geführt, der nicht da war“, schrieb ein australischer Journalist. Im Juli 1976 wurden Nord- und Südvietnam in der Sozialistischen Republik Vietnam vereinigt. Ho Chi Minhs lebenslanger Traum ging in Erfüllung.
Bill Gates vor Onkel Ho?
Tatsächlich ist Ho Chi Minh in Vietnam bis heute allgegenwärtig. Zwar erspart sich das Land am 17. Breitengrad den unerträglichen Personenkult wie er einst in der Sowjetunion oder in China Mode war. Doch gegen seinen ausdrücklichen Wunsch stellte die Partei seinen Leichnam in einem Mausoleum aus. Auf jedem Geldschein ist sein Konterfei, in jedem offiziellen Gebäude, aber auch in zahlreichen Privatwohnungen gibt es eine Onkel-Ho-Büste oder hängt zumindest ein Bild von ihm. Und als eine Jugendzeitschrift 2010 in einer Umfrage nach den Idolen ihrer Leser fragte, und Onkel Ho hinter Bill Gates nur auf Platz zwei landete, kostete dies die verantwortlichen Redakteure ihre Jobs.
Meist feiern die Vietnamesen am 2. September ihren Nationalfeiertag mit farbenfrohen Paraden, einem Meer roter Fahnen mit gelben Sternen, einem grossen Umzug zu Hanois Ba-Dinh-Platz, auf dem Ho Chi Minh einst Vietnams Unabhängikeit erklärt hatte. Häuserwände und Mauern sind zugeklebt mit riesigen Postern, auf denen Onkel Ho lächelt. Angestellte und Arbeiter, die am Nationalfeiertag arbeiten müssen, erhalten eine Extrazuwendung von bis zu 400 Prozent ihres normalen Einkommens, Angestellte auf Nachtschicht bekommen mindestens ein Drittel mehr als an sonstigen Arbeitstagen.
Literatur: Duiker, William: „Ho Chi Minh“. New York: Hyperion, 2000, ca. 900 Seiten.