Die Identifikation fällt heute leicht: Man äussert „Nous sommes Voltaire“ im gleichen Atemzug wie „Je suis Charlie“. Voltaire wird mit dem Eifer der Product-Placement-Profis vereinnahmt.
Voltaire wird auf einmal beansprucht
Die Verkaufszahlen seines Traktats über Toleranz aus dem Jahre 1763 („Die Affäre Calas“) schnellten nach den Attentaten in Paris in die Höhe. Die Grande Nation legte ihren schweren patriotischen Arm um den Philosophen. Die französische Justizministerin Christiane Taubira liess es sich nicht nehmen, anlässlich der Beerdigung des ermordeten Cartoonisten Tignous die selbstschmeichlerische Plattitüde von Frankreich als „dem Land Voltaires und der Respektlosigkeit“ zu bemühen, wo man „das Recht habe, über alle Religionen zu spotten.“ In der Salle du Pape im Schloss Versailles wurde demonstrativ ein Porträt Voltaires aufgehängt.
Nachdem die Nouvelle Philosophie im Antiquariat dahinmodert, wittert ein angejahrter Vertreter, André Glucksmann, die Chance einer Reanimation. Er lancierte kürzlich einen „Gegenangriff mit Voltaire“ („Voltaire contre-attaque“), sozusagen ein neues „Ecrasez l’ infâme“ im Zeitalter des fundamentalistischen Terrors. Im Besonderen weist er darauf hin, dass der Name Voltaires bereits im 19. Jahrhundert an Strahlkraft verlor und im 20. Jahrhundert kaum noch Debatten zu entzünden vermochte. Dabei wäre doch gleich zu Beginn des neuen Jahrhunderts so viel Infames zu zerschmettern.
Voltaire über Rabelais
Gewiss doch. Aber es gibt Respektlosigkeit und Respektlosigkeit. Schon zu Voltaires Zeiten war der Sinn für Humor ein Problem. Die Debatte, die jetzt um Charlie Hebdo und die PEN-Preisverleihung entbrannt ist, hat eine aufschlussreiche Parallele im 18. Jahrhundert. Satire wurde von Voltaire primär als Frage des Stils wahrgenommen. So äusserte er sich in einem Brief ziemlich despektierlich über Rabelais („Über Rabelais sowie andere Autoren, die man bezichtigt, sie hätten die christliche Religion verunglimpft“):
„Monseigneur, da Eure Hoheit Rabelais gründlich kennenzulernen wünscht, sage ich gleich zu Anfang, dass sein Leben, so wie es dem Gargantua vorangedruckt steht, ebenso falsch und ebenso unsinnig ist wie die Geschichte Gargantuas selber. So ist darin zu lesen, dass, als der Kardinal de Bellay ihn nach Rom mitgenommen und nachdem dieser Kardinal dem Papst den rechten Fuss und hierauf den Mund geküsst hatte, Rabelais gesagt habe, er wolle ihm den Hintern küssen, doch müsse ihn sich der Heilige Vater vorher waschen. Es gibt Dinge, die der Respekt vor dem Ort, der Wohlanständigkeit und der Person unmöglich macht. Dieses Geschichtchen kann nur von Leuten aus der Hefe des Volkes ersonnen worden sein.“
Voltaire: Je ne suis pas Charlie!
Da redet einer Fraktur. Voltaire begrüsst zwar die antiklerikale Stossrichtung Rabelais’. Aber es gibt Satire und Satire; es gibt die zivilisierte, geschmackvolle, geistreiche und es gibt die unzivilisierte, geschmacklose, auf die „Hefe“ abzielende Satire. Voltaire bevorzugte den „kurzen und gesalzenen“ Stil, Rabelais’ deftige und viszerale Art des Schreibens goutierte er nicht. Würde Madame la Ministre an solchen Respektlosigkeiten Geschmack finden? Läuft den Leuten von Charlie Hebdo das Wasser im Mund zusammen?
Für Voltaire jedenfalls war das zuviel des Ordinären, für ihn, der bei Gelegenheit keine Bedenken hatte, mit Gift und Galle über kirchliche Würdenträger herzuziehen. Wahrscheinlich würde er über Charlie Hebdo ähnlich urteilen wie über Rabelais: Ich bin nicht Charlie und ich halte die Leute von Charlie für provokative Pennäler, aber ich würde mein Leben einsetzen für das Recht, die Meinung zu äussern wie Charlie.
Toleranz heisst nicht „Dulden“
Kann man tolerant sein und dennoch respektlos? Ja. Voltaire führt es vor. Weil er einen minimalen Toleranzbegriff verficht, den man in zwei Punkten umreissen kann. Erstens zeigt sich Toleranz schlicht und einfach darin, dass man dem andern seine Meinung und Identität belässt: „Eindeutig ist jeder ein Scheusal, wer seinen menschlichen Bruder verfolgt, weil dieser nicht seiner Meinung ist.“ Toleranz ist die negative Minimalverpflichtung, den andern nicht zu unterdrücken, auch wenn ich ihn nicht mag oder seine Lebensart nicht gutheisse. Voltaire hasst Toleranz aus Wohlwollen. Sie hat etwas Heuchlerisches.
So sieht er etwa in Grosszügigkeit, Seelengrösse, Wohltätigkeit feudale Charakterzüge; sie sind implizite Machtdemonstrationen, verraten, gerade im Mantel der Toleranz, insgeheim eine Verachtung für den Tolerierten. Toleranz verträgt sich durchaus mit Respektlosigkeit. Gerade weil Voltaire den andern als den andern sein lässt, gestattet er sich, ihm bei Gelegenheit im Spott den Respekt zu versagen. Toleranz heisst Freiheit für Gedanken, die man hasst.
Toleranz heisst Wechselseitigkeit
Zweitens bedeutet Toleranz, dass man sich „wechselseitig seine Dummheiten verzeiht“. Das ist eine einfache Devise, der aber schwer nachzukommen ist. Denn sie setzt voraus, dass man die „Dummheiten“ bei sich selber feststellt. Für „Dummheit“ kann man auch wahlweise „Vorurteil“, „Dogma“, Ideologie“, „Fanatismus“ einsetzen: also Gesichtsfeldeinengung im Blick auf den anderen. Voltaires Traktat über die Toleranz liest sich über weite Strecken wie die Argumentation eines Advokaten, der vor Gericht seinen Mandanten dadurch verteidigt, dass er die Anklage der Intoleranz auf den Ankläger zurück richtet. Und der Ankläger ist das Christentum.
So zeichnet Voltaire etwa das osmanische und persische Reich als Gesellschaften, in denen religiöse Toleranz herrschte; auch China, wo die Jesuiten nur deshalb vertrieben worden seien, weil sie sich selber intolerant aufführten; im alten Rom sei niemand seiner Weltanschauung wegen verfolgt worden; der römische Senat erklärte, nicht der Mensch, sondern die Götter allein würden über Gotteslästerung urteilen. Nur das Christentum hinke in der Durchsetzung des Toleranzgedankens allen nach: „Werden wir die letzten sein, die die vernünftigen Überzeugungen anderer annehmen? Die haben sich korrigiert, wann werden wir uns korrigieren?“
Auch Muslime rufen „Nous sommes Voltaire“
Voltaire nahm es mit der historischen Wahrheit nicht immer genau. Sein Traktat über die Toleranz ist ein rhetorisches Stück (im Übrigen nicht unbedingt „kurz und gesalzen“). Dessen appellativer Punch hält vor bis heute. „Nous sommes Voltaire“ klingt gut, aber es wäre billig, den Slogan nun im Brustton „Wir sind die Aufgeklärten“ zu skandieren und sich dabei für einen Freiheitskämpfer zu halten. Es ist nicht damit getan, auf dem Marché Républicain das vorfabrizierten Poster „Je suis Charlie“ in die Höhe zu halten. Das ist Solidaritäts-Show, Titelseiten-Bewirtschaftung.
Die stille Reflexion stünde „Nous sommes Voltaire“ besser an als der laute Lippendienst. Und sie wird auch von Muslimen betrieben. Beeindruckender als alle Massendemonstrationen sind mutige und besonnene Einzelstimmen aus dem islamischen Raum, die genau im Esprit Voltairien argumentieren. Etwa der syrische Kolumnist Majid Kayali: „Wir können vom Westen nicht etwas verlangen, was wir selbst nicht tun. Wenn wir es als unverdient ansehen, dass der Westen uns in punkto Menschenwürde, Lebensqualität und Freiheit weit hinter sich lässt, dann drücken wir damit auch aus, dass es in unserem eigenen Verständnis an diesen Werten mangelt, oder zumindest, dass wir nicht genügend bereit sind, sie zu verteidigen. Das wiederum dezimiert unsere Selbstachtung und folglich auch die Achtung, welche die Welt für uns hat.“
Die Nos-quoque-Regel
In diesem Zusammenhang müsste man auch wieder eine Regel des Schweizer Philosophen Elmar Holenstein ausgraben, die „Nos-quoque-Daumenregel“ (die „Auch-wir-Regel“) der interkulturellen Verständigung: Schau, ob du die Vorzüge oder das Kritikwürdige der anderen Kultur nicht auch bei dir selber vorfindest. Die Regel kann helfen, die Front der abgedroschenen Bezichtigungen zu unterlaufen. Und man macht dabei die Entdeckung, dass die Extremisten sich gleichen. Wer Charlie Hebdo vorwirft, gegen die Muslime zu hetzen, sollte sich auch einmal mit Hetzpredigern wie dem Londoner Islamisten Anjem Choudary beschäftigen, der in Fox News solches absonderte:
„Es geht darum, zu konvertieren oder zu sterben. Es geht darum, dass Du entweder mit uns übereinstimmst, oder wir Deine Zeitung betreten (…) und Dich abschlachten.“ Katholische Fundamentalisten blasen ins gleiche Horn. Der Präsident der amerikanischen „Catholic League for Religious and Civil Rights“, Bill Donohue, warf Charlie Hebdo „Intoleranz“ vor und den Ermordeten, dass sie eine Rolle bei der Verursachung ihres eigenen Todes gespielt hätten. Von ihm stammt auch der niederträchtig doppeldeutige Satz: „Self censorship is the friend of freedom.“ - Ecrazez les infâmes!
Das Lachen der Toleranz
Meinungsäusserungsfreiheit, wie sie wohl auch Voltaire vorschwebte, hat es nicht leicht zwischen dem Hammer extremistischer Tollwut und dem Amboss der Political Correctness. „Was soll man einem Menschen entgegenhalten, der sagt, er wolle lieber Gott als den Menschen gehorchen, und daher überzeugt ist, in den Himmel zu kommen, wenn er einem den Hals abschneidet?“ Das ist die brennende Frage von heute, die Voltaire schon im 18. Jahrhundert stellte.
Eine Antwort auf diesen Fanatismus sah er im Lachen. Lachen kann Symptom der Respektlosigkeit sein. Und das ist das Bedrohliche: Das Lachen ist kaum zu bändigen. Es bricht aus uns mitunter heraus wie eine Naturgewalt. Eine unkontrollierbare Macht - in den Augen der Autorität ein menschliches Defizit mit einem unheimlichen subversiven Potenzial. Nicht auszurotten. Man kann nicht jedem, der lacht, den Kopf abschlagen. „Nous sommes Voltaire“: das könnte also bedeuten, über kulturelle Grenzen hinweg, mit dem anderen, lachen zu lernen. Nicht das trennende Lachen der Respektlosigkeit, sondern das verbindende Lachen der Toleranz.