Auch nach 40 Jahren sind die Greueltaten der Roten Khmer unbegreiflich. Als sie in Kambodscha 1976 nach dem Ende des Vietnamkrieges die Macht ergriffen, war die Begeisterung weltweit gross. In den Hauptstädten Europas feierten die Demonstranten, und in Phnom Penh strömten die Bewohner auf die Strassen, um die Roten Khmer mit Blumen zu begrüssen.
Der Horror
Nur wenige Tage später erteilten diese den Befehl, alle Bewohner aus ihren Wohnungen zu vertreiben. Von jetzt auf gleich begann das Deportieren, Foltern und Morden. Hinter dieser Raserei steckte die Wahnvorstellung, dass das zu errichtende kommunistische Paradies neue Menschen bräuchte, also keine, die in Städten lebten, Kultur und Bildung besassen. Der neue Mensch sollte ein Bauer sein und sonst gar nichts.
Bis heute hat sich Kambodscha nicht von der Schreckensherrschaft unter Pol Pot erholt. Insbesondere in der Hauptstadt Phnom Penh spürt man die Traumata, die der Staatsterror auch bei den Jüngeren hinterlassen hat. Ältere Menschen sieht man kaum.
Was ist der Mensch?
Der Begriff des Erinnerns hat daher eine andere Färbung, als wir es in Europa gewöhnt sind, wenn wir an die beiden zurückliegen Weltkriege denken. Uns steckt der Schrecken nicht mehr so unmittelbar in den Knochen. Die Zeit hat eine wohltuende Distanz geschaffen. In Kambodscha ist das anders. Da gibt es keine Familie, deren Leid verblasst wäre. Hier muss Erinnerung nicht an besonderen Tagen angemahnt werden; sie ist Bestand der kollektiven Psyche.
Was ist der Mensch, der solches tut? Der vorliegende Bildband spart die Täter mit einer Ausnahme im 2.Teil aus. Es handelt sich dabei um ein bis zur Unkenntlichkeit abstrahiertes Foto von Nuon Chea, dem Chefideologen der Roten Khmer.
Das Entsetzen
Im ersten Teil enthält der Bildband Fotos, die die Täter von ihren Opfern gemacht haben. Das Fotografieren ging genauso routinemässig zu wie das Wegsperren, Foltern und Morden. Die Bilder sind schwer erträglich. Denn da blickt uns das Entsetzen an. Und wir spüren pure Angst und pure Not. Und die Verzweiflung über das Unbegreifliche, das die Opfer ereilt hat.
Der Band „Shaded Memories“ enthält nun ein grosses Wagnis. Denn den Fotos der Opfer folgen die Aufnahmen der Fotografin Ann-Christine Woehrl. Sie interpretiert den Horror aus ihrer heutigen Sicht. Ihre Fotos sind auf ihre Weise still: stilles Entsetzen, stille Trauer, stilles Heil, das dem Unheil folgt. Ihre Ästhetik ist so, dass man sich die Bilder wieder und wieder anschaut. Die Fotografin hat ihre Aufgabe gut gelöst, gewiss.
Aber passen die Ästhetik der Bilder mit den Schrecken zusammen, auf die sie sich beziehen? Müssten die Bilder nicht auch formal die Abgründe enthalten, auf die sie sich beziehen? Es hat eine Richtung in der japanischen Fotografie gegeben, die sich in den 1960er Jahren im Kontext der gesellschaftlichen Umwälzungen in Japan, aber auch im Zusammenhang weltweiter Protestbewegungen entwickelt hat. Das Fotomuseum Winterthur hat diese Fotografie in einer Ausstellung 2016 dokumentiert und der Steidl Verlag hat ihr einen umfangreichen Bildband gewidmet.
Aber diese Bilder sind derartig schrill, dass sie das Medium Fotografie zerreissen. Das Medium wird zerfetzt, weil die Wirklichkeit selbst das vermeintlich erfordert. Anders die Bilder von Ann-Christine Woehrl, die auch vor dem Hintergrund des „Tuol Sleng Genocide Museums“ in Phnom Penh zu sehen sind. In einem Beitrag zu dem Bildband beschreibt Visoth Chhay, Direktor dieses Museums, wie mit Hilfe von Erinnerungsstücken und mit den Fotos der Opfer der Versuch unternommen wird, den Abgrund, der sich aufgetan hat, irgendwie fassbar zu machen. Er schreibt von „Bildungsmission“ und „Aufklärungsarbeit“. Diese Worte wirken hilflos und fragwürdig, aber sie bekommen dadurch Glaubwürdigkeit, dass die in 12‘000 Steinen eingravierten Namen und die zahllosen Fotos der Opfer bis heute Angehörigen dazu dienen, wenigstens zu erfahren, was mit ihren nächsten Verwandten geschah.
Das deutsche Auswärtige Amt hat das Projekt, das in Zusammenarbeit mit Partnern in Kambodscha realisiert wurde, gefördert. Frank-Walter Steinmeier hat zur Eröffnung der Ausstellung in Berlin im Januar 2017 ein Grusswort verfasst. Weitere Ausstellungen werden folgen.
Ann-Christine Woehrl, Shaded Memories
Mit Beiträgen von: Ann-Christine Woehrl, Frank-Walter Steinmeier, Stéphanie Benzaquen-Gautier, Visoth ChhayChristine Kron und Rithy PanhAnne-Laure Porée
132 Seiten, 89 Fotos, Deutsch, Englisch
Hardcover mit aufkaschiertem Coverfoto
Edition Lammerhuber 2017, 49,90 Euro