Wie Geschichtsprofessor Jeronim Perovic vor der Gesellschaft "Swiss Diplomats – Zurich Network" ausführte, will der russische Präsident Putin mit der Vereinnahmung der Krim und der aktiven Unterstützung der russischen Separatisten in der Ukraine die mit dem Zerfall der Sowjetunion verlorene Machtposition restaurieren.
Der vor vier Jahren auf Initiative des Diplomaten Max Schweizer entstandene und von Altbotschafter Christian Blickenstorfer präsidierte Klub von Schweizer Diplomaten im Grossraum Zürich ist ein elitäres Gremium. Das als parteilose Stellungnahme angekündigte Referat des auf Osteuropa spezialisierten Geschichtsprofessors an der Universität Zürich war eine Insiderinformation. Sie musste sich – anders als die Medien – weder um Einschaltquote noch um Leseranteil bemühen. Die auf Politik spezialisierten Zuhörer suchten weder Schlagzeilen noch Stoff für Empörung. Und sie bekamen denn auch eine hintergründige Analyse, welche die Positionen von Moskau und Kiew einordnete wie auf einem geopolitischen Schachbrett für Osteuropa. Auch so ist die Lage beunruhigend.
Folgen der Osterweiterung
Jeronim Perovic präsentierte sein Referat unter dem Titel „Russland, die Ukrainekrisis und die neue (Un) Ordnung Europas“. Die Unordnung entstand mit dem Ende des Kalten Krieges und dem Zerfall der Sowjetunion. Das westliche Verteidigungsbündnis löste sich dabei im Unterschied zum Warschauer Pakt nicht auf. Im Gegenteil: Die Nato hat seit der Wende nach 1989 ihr Einflussgebiet in Osteuropa um ein Drittel erweitert. Russlands Position wurde erheblich reduziert und das Land würde mit einer Abwanderung der Ukraine zu EU und Nato eine letzte Pufferzone im Westen verlieren. Bei dieser geopolitischen Situation gewinnt man etwas Verständnis für das vielerorts belächelte Statement von Wladimir Putin. Der starke Mann in Moskau bezeichnete den Zerfall der Sowjetunion als die grösste machtpolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts. Das Lächeln dürfte inzwischen erloschen sein angesichts der russischen Übernahme der zur Ukraine gehörenden Halbinsel Krim und der aktiven Unterstützung der ukrainischen Separatisten.
Es ist schockierend, dass sich erstmals im Nachkriegseuropa wieder eine Macht gegen den Willen eines Landes Regionen aneignet und in dessen innere Auseinandersetzung eingreift. Wie Perovic ausführt, war das bis zur Wende von 1989 herrschende Gleichgewicht des Schreckens zwischen den Atommächten USA und Sowjetunion zumindest stabil. Die jetzige Situation ist dagegen eine beunruhigende Rückkehr zur Macht- und Geopolitik. In einer auf Globalisierung der Wirtschaft und die weltweite Information über das Internet ausgerichteten Situation präsentiert ein Staat wieder seine Macht und begründet seine Verstösse gegen das Völkerrecht mit geopolitischen Überlegungen.
Es war nach Professor Perovic richtig, dass der Westen mit seinem wirtschaftlichen Boykott gegen Russland zeigte, dass eine globalisierte Welt solche Verstösse nicht hinnehmen will. Es ist auch nötig, die unmittelbar bedrohten Mitglieder von EU und Nato in Osteuropa zu beruhigen. Es wäre aber riskant und verhängnisvoll, wenn sich westliche Staaten in das Gerangel um Regionen und Gebietsansprüche in Osteuropa einschalten sollten. Der Vielvölkerstaat Ukraine ist schwach und ohne die Tradition eines Nationalstaates. Kiew wird sich daher mit Moskau arrangieren müssen. Diese politische Stellungnahme ist wenig populär in einer Situation, wo Politiker vor allem in den USA die Lieferung schwerer Waffen an die Ukraine propagieren. Das politische Statement des Geschichtsprofessors schien in Zürich aber auf Zustimmung zu stossen. Zumindest waren in der anschliessenden Diskussion keine abweichenden Urteile zu hören.
Russland als Weltmacht
Professor Perovic begann sein Referat mit der Klage des dissidenten sowjetischen Schriftstellers Solschenizyn. Ein Buch von 1994 beschreibt das Unglück, dass Russland beim Zerfall der Sowjetunion 25 Millionen Menschen oder 18 Prozent seiner Bevölkerung verloren hat. Sowohl der reformwillige Gorbatschow als auch sein Nachfolger Jelzin wurden von national orientierten Kreisen daher zur Wiedervereinigung aller Russen aufgefordert. Nach Perovic war es ein Glück, dass beide Politiker sich nicht auf dieses Anliegen einliessen. Dieses hätte dem russischen Vielvölkerstaat vermutlich eine ähnliche Selbstzerfleischung gebracht, wie sie in Jugoslawien von den Serben provoziert wurde. Der Hinweis auf Jugoslawien wurde in der anschliessenden Diskussion leider nur sporadisch aufgegriffen.
In Russland hat Soschenizyn inzwischen mit Putin einen potenten Schüler bekommen. Der starke Mann in Moskau möchte wie der um das imperiale Russische Reich trauernde Schriftsteller die Machtposition restaurieren und einen Ersatz schaffen für den Zerfall der Sowjetunion. Die Vereinnahmung der Halbinsel Krim und die Waffenhilfe für die russischen Separatisten in der Ukraine sind Ansätze dazu. Aber von Putins Erinnerung an das tausendjährige Reich der ostslawischen Brudervölker ist man noch weit entfernt. In Asien hat Russland wirtschaftlich und politisch keine Zukunftsposition. Und in Europa verärgert es ausgerechnet seine wichtigsten Wirtschafspartner, welche die wirtschaftlich stagnierende Ölmacht dringend brauchen würde. Wie ein Altbotschafter in Moskau in der Diskussion sagte, hat Moskau eigentlich nichts in der Hand als seine Atommacht.
Was allerdings in unseren Medien selten erwähnt wird, ist die russische Befindlichkeit, bei der Putin offenbar sowohl mit seiner Propaganda wie auch mit seinen machtpolitischen Übergriffen Anklang findet. Perovic erwähnte in seinem Referat eine Meinungsumfrage von Ende Mai dieses Jahres, nach der knapp 88 Prozent der Befragten die Politik ihres Präsidenten akzeptieren. Diese Zustimmung wird auch durch westliche Umfrageinstitute erhärtet. Zu denken gibt der Umstand, dass der Anstieg der Popularität des Präsidenten mit einer massiven Abnahme des Vertrauen in den Westen verbunden ist. Das schon immer gehegte Misstrauen gegenüber den USA wurde jetzt auch auf Westeuropa ausgeweitet.
Schwache Position von Kiew
Die Ukraine ist militärisch schwach und die Armee kann bei einem russischen Angriff keine westliche Hilfe erwarten. Eine militärische Einnahme durch Russland wäre theoretisch möglich. Sie ist aber unwahrscheinlich. Moskau genügt die Destabilisierung des ohnehin wackeligen Vielvölkerstaates. Der autokratische Putin kann hier die Demokratisierung und Verwestlichung erschweren und sein Regime als Modell der Stabilität präsentieren. Er verteidigt zudem die russische Hoheit in der Geschichtsinterpretation. Russland bleibt der Sieger über Hitler und wenn die Regierung in Kiew etwas anderes behauptet, so muss sie von Faschisten geführt sein. Wie Perovic in seinem Referat zeigte, war die Ukraine in ihrer Geschichte höchstens kurzfristig souverän und hat keine eigenstaatliche Tradition. Man orientierte sich meistens nach Moskau.
Trotz den heutigen Übergriffen sind die Russen nicht eigentlich Fremde. Die russische Föderation mit ihren 143 Millionen Einwohnern ist ohne die aus verschiedenen Völkergruppen bestehende Ukraine mit 45 Millionen Einwohnern weder von der Bevölkerung noch vom Raum her eine wirkliche Grossmacht. Auch wirtschaftlich ist man aufeinander angewiesen. Zwischen 2 und 3 Millionen Ukrainer sind Gastarbeiter in Russland. Und wenn die Ukrainer die russische Ölmacht provozieren, so riskieren sie, dass der nächste Winter kalt und ungemütlich wird. An einem Arrangement mit dem grossen Nachbarn kommt die Regierung in Kiew nicht vorbei. Und das ist den Realpolitikern in beiden Hauptstädten bewusst.
Zurückhaltend gibt sich Perovic gegenüber der westlichen Politik. Vielleicht hätte frühzeitige Einflussnahme die Ukrainekrise verhindern können. Im Moment ist vorsichtige Abwägung ratsam. In der Diskussion wurde Perovic nach der Gefahr für die baltischen Staaten befragt. Er beurteilt das baltische Risiko als eher gering, weil es im Baltikum nicht um slawische Staaten gehe. Die Balten kennen ihre Landnahme im Mittelalter und sind stolz auf Eigenständigkeit zwischen den Weltkriegen. Zudem bezeichnet Putin die westlichen Nachbarn auch in seiner Propaganda als „Partner“, von denen er sich nicht völlig isolieren möchte.