Wer noch kann und mit etwas Abstand (mindestens zwei Meter) betrachtet, was derzeit geschieht, der stellt fest: Wir erleben eine komplett verrückte Zeit. Es ist zusehends schwierig, überhaupt noch ein Argument zu formulieren, das in der allgemeinen Panik nicht sogleich untergeht. Seltsamerweise gibt es jedoch offensichtlich Parallelwelten.
Die eine dieser Welten findet auf den Medienportalen statt mit sich überschlagenden stündlichen Updates, laufend neuen Hiobsbotschaften und Alarmmeldungen. Die andere Welt beginnt vor der Haustür, wo Menschen nach wie vor unterwegs sind, Leute miteinander sprechen, Kinder lachen. Das kann sich schon bald ändern, wenn der Bundesrat noch schärfere Massnahmen beschliesst, um die Ausbreitung der Virusinfektionen einzudämmen oder wenigstens zu bremsen.
Heute morgen beim Kaffee bin ich in der NZZ auf den Gastkommentar von Margit Osterloh und Bruno S. Frey gestossen. Sie sind Gastprofessoren an der Universität Basel und Forschungsdirektoren des Center for Research in Economics Management and the Arts (Crema), Zürich. Ich kann die Lektüre dieses Textes von der ersten bis zur letzten Silbe nur wärmstens empfehlen.
25’000 Grippetote in Italien
Nur ein paar Zahlen daraus, bei denen ich davon ausgehe, dass sie stimmen: Im Winter 2016/2017 gab es in Italien 25’000 Grippetote, davon 19’400 im Alter von über 65 Jahren. 2017 starben in der Schweiz bis zu 1’000 Menschen an einer Grippe. Weder wurden Grossveranstaltungen verboten noch Schulen geschlossen. Die italienische Regierung hat nicht das Land stillgelegt. Es wurden keine Flüge von und nach Italien ausgesetzt. Der Bundesrat hat keinen Notstand ausgerufen.
Seit Jahren wissen alle, dass die Entwicklung an den Börsen surreal ist. Noch surrealer ist die Bereitschaft von Menschen, Geld zu einem Negativzins «anzulegen». Osterloh und Frey schreiben vom «Schockrisiko». Die Reaktion auf ein Ereignis löst mehr Schaden aus als das Ereignis an sich. Als Beispiel erwähnen sie die 1’600 Verkehrstoten, die nach 9/11 in den USA zusätzlich gezählt wurden, weil die Amerikaner vom Fliegen aufs Autofahren ausgewichen sind. Ein solches Schockrisiko hat nun das fragile Gleichgewicht an der Börse innert weniger Tage zum Einsturz gebracht. Vor drei Wochen wurden noch Höchststände bejubelt. China fährt die Produktion bereits wieder hoch. Aber im Westen herrscht die komplette Panik, als ob wir morgen alle tot wären.
Der Tages-Anzeiger hat vor kurzem in einer Leserumfrage wissen wollen, wie die Leserinnen und Leser die bisherige Berichterstattung in Zusammenhang mit dem Virus beurteilen. Rund zwei Drittel fanden die Berichterstattung angemessen. Ich werde den Eindruck nicht los, dass dieses gute Ergebnis die Redaktion angestachelt hat, noch einen daraufzulegen. Wenn ich die Tages-Anzeiger-App starte, staune ich, dass ich überhaupt noch am Leben bin.
Was mich auch erstaunt, ist die Tatsache, dass sich die Berichterstattung in der NZZ kaum noch vom Tages-Anzeiger unterscheidet. Ist das alles noch angemessen? Oder schüren die Medien zusätzlich ein Feuer. Wo bleibt die Verantwortung der vielgepriesenen vierten Gewalt unseres Staats? Ist das alles noch verhältnismässig?
1’600 Hepatitis-C-Todesfälle
Verstehen Sie mich nicht falsch: Dieses Virus ist nicht zu unterschätzen. Und es ist absolut wichtig, dass seine Verbreitung eingedämmt wird mit dem obersten Ziel, die Gesundheit der Menschen zu schützen.
Aber ich wundere mich schon etwas: So wie der Bund heute alles tut, was nötig und möglich ist, um die Ausbreitung des Virus einzudämmen, so weigert er sich beispielsweise seit Jahren herauszufinden, wie viele Menschen in der Schweiz mit dem Hepatitis-C-Virus (HCV) infiziert sind. Weltweit leben mehr als 325 Millionen Menschen mit einer chronischen Hepatitis-Infektion. Jedes Jahr stecken sich 1,7 Millionen Menschen neu an. 1,3 Millionen Menschen sterben weltweit. Jährlich.
In der Schweiz sterben jedes Jahr gemäss Zählungen der Universitäten Bern, Genf und Zürich 1’600 Menschen an Hepatitis C, einer Krankheit, die in der Schweiz heute rund 40’000 Menschen betrifft. Was in Sachen Coronavirus geschieht und wie viele Milliarden der Bund bereit ist, dafür auszugeben oder den Menschen in diesem Land an Einkommensausfällen aufzubürden, erleben wir gerade. Ich wiederhole mich: Jeder Mensch, der infolge einer Coronavirus-Infektion stirbt, ist ein Todesfall zuviel. Aber gilt das nicht auch für Todesfälle infolge Grippe oder HCV?
Sterbecharts für Grippe und HCV
Ich erwarte eigentlich, dass nach dieser Pandemie, nachdem sich die Panik gelegt hat, der gesunde Menschenverstand wieder einsetzt. Ich erwarte an sich, dass dann die Verhältnismässigkeit überprüft wird und all das, was wir jetzt von Bundesrat und BAG und von den Medien erfahren, auch auf andere Bereiche umgesetzt wird. Ich erwarte, dass Tages-Anzeiger und NZZ jeden Tag Sterbecharts für Grippe, Hepatitis C und andere Erkrankungen auf der Startseite zeigen, für die an sich Behandlungs- und Vorsorgemöglichkeiten existieren. Ich erwarte, dass ab sofort alle Menschen immer die Hände waschen, dass Trams, Busse und Züge regelmässig desinfiziert werden, dass zuhause bleibt, wer krank ist, und dass alle sich korrekt verhalten.
Ganz ehrlich: Ich rechne nicht damit. Sobald dieser Schock vorbei ist, werden die Menschen sehr schnell vergessen und zur Tagesordnung zurückkehren. Die Aktienkurse werden wieder zulegen, die Kreuzfahrtschiffe werden wieder ihr Schweröl verbrennen und die Luft verpesten (herrlich, diese frische Meeresbrise, nicht wahr?), die Satellitenaufnahmen werden wieder Smogglocken über den chinesischen Industriestädten zeigen. Die Airlines werden wieder Touristen zu Spottpreisen über die Meere fliegen. Die Menschen werden sich anhusten, die Hände so wenig waschen wie zuvor. Und jedes Jahr werden in der Schweiz tausende Menschen sterben an Grippe, HCV oder anderem. Es wird niemanden interessieren.
Was lernen wir daraus? Nichts.