Man kann einen Sinn darin sehen, Grümpelturniermeister oder lokale Schönheitskönigin zu werden, die Fermatsche Vermutung zu beweisen oder den genetischen Code zu knacken, ein guter Lehrer oder Vater zu sein, einen intelligenten Dauerwellenapparat oder eine App für Sinnfragen zu bauen, für die Menschenrechte zu kämpfen oder Artikel zu schreiben, die wenigstens zwei Leser verstehen. Es kann sinnvoll sein, Sinnfragen mit einer Ohrfeige zu beantworten oder sie wegzulachen. Ich möchte hier kurz einen etwas ungewohnten Weg einschlagen, der seinen Ausgang beim Zufall nimmt. Ich stelle deshalb gleich eine Behauptung auf: Sinnsuche bedeutet Kampf gegen den Zufall. Und hier kann uns die Mathematik einiges lehren.
Regelhafte und zufällige Ziffernfolgen
Vergleichen Sie die beiden Ziffernfolgen
110010000110100010100010010110000011
100100100100100100100100100100100100
Zeigen diese Folgen ein Muster? Bei der zweiten ist die Antwort eindeutig „ja“. Man kann sie leicht in einer einfachen Anleitung wiedergeben: „Schreibe 12-mal ‚100’ hin“. Bei der ersten Folge ist das jedoch nicht möglich. Wir können sie nicht in einer einfachen Anleitung komprimieren, wir müssen die Folge, wenn wir sie jemandem mitteilen wollen, tel quel wiedergeben. Es gibt also offensichtlich Ziffernfolgen, die sich dank Anleitungen – Algorithmen – komprimieren lassen, und solche, bei denen dies nicht der Fall ist; wir nennen sie zufällig. Die Länge der Anleitung – sie lässt sich in Bits formulieren – ist ein Mass für die Komplexität der Folge.
Eine Frage stellt sich jetzt sofort: Könnte man auf diese Weise alle möglichen Ziffernfolgen in regelhafte und zufällige unterteilen? Man hätte dann sozusagen eine patente Maschine, die uns automatisch die Antwort auf die Frage liefern könnte: Ist die präsentierte Ziffernfolge zufällig oder nicht? Nun erscheint eine solche Frage auf den ersten Blick durchaus als sinnvoll, ja, lösbar in vielen Fällen, aber sie enthält ein tückisches Paradox, wenn man sie generell – für endliche und unendliche Folgen – formuliert. Veranschaulichen wir es an einem einfachen Beispiel.
Interessante und uninteressante Zahlen
Versuchen wir, die natürlichen Zahlen in interessante und uninteressante zu unterteilen. Statt einer allgemeinen Definition von „interessant“ halten wir nach besonderen Merkmalen der Zahlen Ausschau. Beginnen wir mit 1. 1 ist interessant, weil 1 die erste natürliche Zahl ist. 2 ist interessant, weil 2 die einzige gerade Primzahl ist. 3 ist interessant, weil 3 die erste ungerade Primzahl ist. 4 ist interessant, weil: 4 = 2 + 2 und 4 = 2 x 2. 5 ist interessant, weil 5 die Summe aus den ersten beiden Primzahlen ist. 6 ist interessant, weil 6 eine vollkommene Zahl ist, das heisst, die Hälfte der Summe ihrer Teiler: 6 = ½ (1 + 2 + 3 + 6). Undsoweiter. [1] Zahlentheoretiker und Zahlenmystiker können sich ein Leben lang mit solchen Eigenschaften von Zahlen beschäftigen. Und irgend einmal wird im Laufe dieser Beschäftigung die Frage auftauchen: Gibt es eine eindeutige Unterteilung, eine automatische Sortiermaschine von interessanten und uninteressanten Zahlen? Gäbe es sie, müsste sie irgendwann auf die erste uninteressante Zahl stossen. Aber die erste uninteressante Zahl zu sein, ist das nicht äusserst interessant? Die Idee einer automatischen Sortiermaschine von interessanten und uninteressanten Zahlen endet in einer Paradoxie. Daraus schliessen die Mathematiker: Es gibt keine solche Maschine.
Eine Wundermaschine
Nichtsdestoweniger faszinieren unmögliche Maschinen, weil sie quasi die inneren Grenzen logischen oder formalen Denkens aufzeigen. Bertrand Russell hatte bereits zu Beginn des 20. Jahrhundert mit ähnlichen Paradoxien auf logische Risse in den Grundfesten der klassischen Mathematik aufmerksam gemacht. Das war ein fundamentaler Schock. Die Frage nach der Komprimierbarkeit von Zeichenketten beschäftigt aber neuerdings auch die Informationstheoretiker. In einer Welt der vernetzten Informationsflüsse erscheint es natürlich aus praktischer, zeitökonomischer Perspektive höchst wünschenswert, wenn man Botschaften in möglichst kompakten Bit-Paketen zirkulieren lassen kann. Aber das Problem, auf das wir hier stossen, hat viel grösseren Tiefgang. Es zielt auf nichts Fundamentaleres ab als auf die Grenzen der Berechenbarkeit überhaupt.
In den frühen 1960er Jahren formulierten drei Forscher – der berühmte Mathematiker Andrey Komolgorow, der Computerpionier Ray Solomonoff und das Wunderkind Gregory Chaitin – unabhängig voneinander ein exaktes Konzept, wie man die Komplexität von Ziffernfolgen berechnen kann. Ihre Ideen sind heute als Theorie der algorithmischen Komplexität geläufig. Diese Theorie definiert die Komplexität einer Ziffernfolge als das kürzeste Computerprogramm, das die Folge produziert. Daraus resultiert nun fast von selbst die Idee einer Maschine, der man eine beliebige Ziffernfolge (normalerweise in Nullen und Einsen) füttert; nach einer bestimmten Zeit spuckt sie die Bit-Zahl ihrer Komplexität aus.
Die Wundermaschine existiert nicht
Eine solche Maschine gibt es nicht. Das ist eines der tiefsten Theoreme der mathematischen Logik. Die Unmöglichkeit ihres Designs hat nicht computertechnische Gründe; auch liegt sie nicht darin, dass wir zuwenig intelligent wären, das Programm der Maschine zu schreiben. Der Knackpunkt steckt im Begriff „kürzestes Computerprogramm“. Er verwickelt uns in verwandte Widersprüche wie das Konzept der interessanten Zahl. Im Besonderen schliesst das Theorem nicht aus, dass ein Computer zufällig das Programm zur Bildung einer hochkomplexen Ziffernfolge findet. Nur kann er nicht zeigen, dass es sich um das kürzeste Programm handelt. Die Möglichkeit einfacherer Programme existiert immer. Man vermutet im Übrigen, dass es unter den unendlich vielen denkbaren Ziffernfolgen sehr viel mehr zufällige als regelhafte gibt.
Der Plot des Lebens
Machen wir jetzt einen gewagten Sprung von Ziffernfolgen zu den Ereignisfolgen, aus denen unser persönliches Leben besteht. Ich will natürlich nicht suggerieren, unsere Suche nach dem Sinn des Lebens sei die Suche nach einem „Algorithmus“ des Lebens. Das Leben ist keine berechenbare Abfolge von Ereignissen. Aber oft genug erscheint uns diese Abfolge als chaotisch, erratisch, unübersichtlich, zufällig, und wir möchten gern Kohärenz in diese Ungereimtheit bringen.
Vielleicht ist das Motiv sogar das gleiche wie bei den Zahlenfolgen. Uns widerstrebt der Zufall. Wir ertragen es schlecht, dass Dinge einfach so geschehen. Wir wollen Muster sehen, Zusammenhänge, Ursachen: einen sinnstiftenden Plot im Wirrwarr der Ereignisse, der sie auf irgendeine Weise „komprimiert“. Wir sagen dann, wir sähen im Leben einen Sinn. Er liefert uns Einsicht, Trost, Kohärenz, Halt, aber nicht die Gewissheit, dass es sich um den „besten Plot“ handelt. Es kann sich immer lohnen, nach einem besseren Plot zu suchen. So wie es kein allgemeines Beweisverfahren dafür gibt, dass der Computer das kürzeste Programm gefunden hat, so können wir nie sicher sein, den „letzten“ Sinn des Lebens gefunden zu haben. Soviel lehrt uns die Mathematik.
Zuviel Sinn tut nicht gut
Man kann sein Leben auch überinterpretieren: In Zufallsereignissen sehen wir verborgene Gesetzmässigkeiten, in allem, was uns widerfährt, sehen wir Absicht, Plan, womöglich Bedrohung. Ich treffe dreimal am gleichen Tag einen alten Bekannten in der Stadt, den ich lange nicht gesehen habe, und schon denke ich, er stelle mir nach; ich finde auf der Strasse eine Hunderterrnote und denke an eine Geste des Schicksals, vielleicht an eine Gunstbezeigung des Herrn; in meinem Garten haben Winden die anderen Pflanzen befallen und schon wittere ich eine heimliche hortikulturelle Sabotage meines Nachbarn. Wir sind nicht nur Zufallshasser, wir sind auch übereifrige Deuter all dessen, was um uns und mit uns geschieht. Am Ende dieses Wegs winkt die Paranoia.
Das Muster im Teppich
Von Henri James gibt es eine meisterhafte literarische Variation des Themas, in seiner Erzählung „Das Muster im Teppich“. Ein junger, ehrgeiziger Literaturkritiker möchte auf die „Grundidee“ des Werks des berühmten Autors Vereker kommen. Der Kritiker vergleicht diese Grundidee mit dem komplizierten Muster in einem Perserteppich. Er möchte also das, was das Werk, ja, das Leben des Autors ausmacht, quasi wie ein Muster an den Tag bringen. „Können Sie es (das Geheimnis, E. K.) mit der Feder ausdrücken, benennen, erklären, formulieren?“, dringt er auf Vereker ein. Aber dieser speist ihn ab mit vagen Tipps. Die hintergründige Ironie der Geschichte liegt darin, dass der Kritiker eigentlich Opfer seiner Fragestellung ist. Verschossen in die Idee, das Webmuster aus dem Teppich herauszulösen, zu abstrahieren, verstellt er sich die Sicht auf das konkrete Gesamtgewebe des Teppichs – auf das ganze Werk Verekers, letztlich dessen Leben, welches das Muster ist. Es verhält sich etwa so, wie man jemanden auffordern würde, ein Bild von Paul Klee „zusammenzufassen“ – man kann es nur zeigen.
Jedes persönliche Leben als Teppich mit individuellem Muster – eine prächtige Metapher. Man versuche nur nicht, das Muster aus dem Teppich zu lösen. Das heisst, man kann es auch lassen, nach dem Sinn des Lebens zu fragen. Leben ist so, wie es ist. Das nennt sich Gelassenheit. Sie bedeutet nicht, dass das Leben sinnlos oder gleichgültig geworden wäre, sondern, dass es identisch mit seinem Sinn geworden ist – nicht zum Muster im Teppich, sondern zum Teppich mit seinem Muster.
[1] Hier verweise ich auf den Wikipedia-Artikel „Liste besonderer Zahlen“.