Eine solche breite Protestwelle hat es in Polen schon lange nicht mehr gegeben. Auslöser war ein Urteil des Verfassungsgerichtes vom letzten Donnerstag. Das von Gefolgsleuten der herrschenden rechtskonservativen PiS (Recht und Gerechtigkeit) dominierte Gericht hatte das geltende, sehr restriktive Abtreibungsgesetz massiv verschärft. Es erklärte die bisher erlaubte Abtreibung eines geschädigten Fötus für verfassungswidrig. Das wollten viele Bürger und Bürgerinnen, vor allem jüngere Frauen, nicht hinnehmen – Corona hin oder her.
Frauen an der Front
Bereits am Donnerstagabend kam es zu ersten Protesten, unter anderem auch vor dem Haus des PiS-Vorsitzenden Jaroslaw Kaczynski. Am Freitagabend gab es dann bereits landesweit in über 60 Städten Kundgebungen. In der Hauptstadt Warschau nahmen über 10’000 Personen teil. Selbst in kleineren Städten wurde demonstriert. Am Samstag wurden die Proteste fortgesetzt. In den Grossstädten Krakau und Poznan gab es Demonstrationen mit gegen 10’000 Teilnehmenden. Selbst im ostpolnischen, eher konservativen Lublin waren mehrere Tausend unterwegs.
Am Sonntag wurden die Proteste in vielen Städten fortgesetzt, nicht selten vor den Bischofssitzen, teilweise auch vor den Kirchen. Vereinzelt standen Frauen auch mit Plakaten in den Kirchen. Nach Schätzungen waren sogar mehr Leute unterwegs als am Samstag. In der ostpolnischen Provinzhauptsadt Bialystok waren mit über 10’000 Teilnehmenden noch nie so viele demonstrieren gegangen.
Viele Frauen trugen selbstgebastelte Transparente mit sich. „Pieklo kobiet“ (Hölle für die Frauen) „Hanba“ (Schande) oder „mein Körper, meine Wahl“ waren etwa populäre Aufschriften. Die Emotionen gingen hoch, die Wut war bei vielen gross. Slogans und Sprüche waren oft nicht salonfähig. Häufig wurde das Schimpfwort „wypierdalac“ (verpisst euch) verwendet. Polizeiliche Aufforderungen, die Demonstrationen zu beenden, wurden meist ignoriert. Es kam vereinzelt zu kleineren Auseinandersetzungen und Verhaftungen. Im schlesischen Katowice wurde ein linker Abgeordneter vorübergehend festgenommen.
Die Abtreibungsfrage – ein Dauerbrenner
Im realsozialistischen Polen hatte ein sehr liberales Abtreibungsgesetz gegolten. Dieses wurde kurz nach der Wende 1993 auf Druck der katholischen Kirche und entgegen der Mehrheitsmeinung massiv verschärft. Nach dem neuen, heute noch geltenden Gesetz waren nur noch Abtreibungen bei Gefahr für das Leben der Mutter, bei Vergewaltigungen und Inzest sowie bei zu erwartenden Missbildungen und schweren Krankheiten des Fötus gestattet.
Diese als „Kompromisslösung“ verkaufte Regelung ging der Mehrheit des Klerus und den traditionalistischen Katholiken nicht weit genug. Diverse Umfragen zeigten aber immer wieder, dass nur eine Minderheit für eine Verschärfung des Gesetzes war. Ende 2019 war es nur gerade 15 Prozent der Befragten.
Die Zahl der legal durchgeführten Abtreibungen war auch gering. 2014 waren es gut 1800, 2019 rund 1100, die allermeisten wegen eines geschädigten Fötus. Die Schätzungen der illegalen Abtreibungen schwankten hingegen enorm. Sie reichten von einigen Zehntausend bis zu über Hunderttausend. Die Abtreibungen werden oft im Ausland durchgeführt.
Die Abtreibungsfrage stand auch immer wieder im Parlament zur Debatte. Neben Versuchen aus linken Kreisen, die Abtreibung erneut liberaler zu gestalten, waren vor allem die Abtreibungsgegner aktiv. Sie lancierten sogenannte Bürgerprojekte. Mit jeweils über 100’000 gesammelten Unterschriften brachten sie mehrmals Gesetzesvorschläge ins Parlament, welche praktisch ein Abtreibungsverbot vorsahen. Diese scheiterten aber im Parlament.
Auch als die PiS Ende 2015 die Macht übernahm, wurde ein erneuter Versuch im Oktober 2016 nicht zuletzt durch Massenproteste und einen Frauenstreik gestoppt. Ein weiteres Projekt wurde vor allem aus wahltaktischen Gründen auf die lange Bank geschoben. Abgeordnete aus der PiS und einer kleinen rechtsnationalistischen Gruppierung gelangten dann ans Verfassungsgericht. Es sollte die Frage prüfen, ob die Abtreibung eines geschädigten Fötus nicht gegen die Verfassung verstosse, insbesondere gegen das Recht auf Leben.
Wie geht es weiter?
Das Urteil des Verfassungsgerichtes tritt eigentlich in Kraft, sobald die Gesetzesänderung in der offiziellen Gesetzessammlung veröffentlich wird. Normalerweise passiert das relativ schnell.
Allerdings kann die Regierung dies selber steuern. Es gibt also noch ein Hintertürchen. So hat ein Oppositionspolitiker vorgeschlagen, das Urteil vorerst nicht zu veröffentlichen, sondern zuerst ein Referendum über eine Verfassungsänderung durchzuführen. Diese sollte explizit die Abtreibung von geschädigten Föten erlauben und so bei einem zu erwartenden positiven Resultat das Urteil gegenstandslos machen. Auch einer der kleinen Koalitionspartner der PiS rief dazu auf, eine Lösung zu finden. Kritik kam auch vom Chef der Ärztekammer, das Urteil sei eine unverantwortliche Provokation zu Demonstrationen und Protesten.
Ablenkung von der Coronakrise?
Die Frage ist wieder einmal mehr, was Kaczynski, der starke Mann Polens, entscheidet. Warum ist er überhaupt das Risiko eingegangen, dass in der sich zuspitzenden Pandemiekrise ein neuer Konflikt die politische Agenda beherrscht? Das Verfassungsgericht hätte ja den Termin ohne Probleme weiter hinausschieben können. Hat er den Widerstand unterschätzt und gedacht, es käme angesichts der schwierigen Lage nicht zu grösseren Protesten. Oder hat er den Konflikt sogar bewusst in Kauf genommen, um sich in seiner Partei und bei seiner Kernwählerschaft zu profilieren und damit auch von der zunehmend prekären Coronasituation abzulenken.
Fakt ist, dass auch in Polen die Situation bald ausser Kontrolle geraten könnte. Am Freitag wurde mit 13’600 bestätigten Fällen und über 150 Toten ein neuer Höchststand erreicht. Auch Präsident Andrzej Duda hat einen positiven Bescheid erhalten und befindet sich in Quarantäne, allerdings bisher ohne Symptome. Die Regierung hat ab Samstag einen teilweisen Lockdown verfügt.
Unter anderem werden alle Schulen ab der vierten Klasse wieder Fernunterricht haben, Bars und Clubs sind geschlossen, Restaurants dürfen nur noch Take-away anbieten, Sportanlässe müssen ohne Publikum durchgeführt werden.
Politische und gesellschaftliche Folgen
Nachdem das Regierungslager vor ein paar Wochen nur mit Mühe eine Krise beendet hat, steht es schon wieder unter grossem (Corona)-Stress. In einer kürzlichen Umfrage hat die PiS denn auch an Popularität eingebüsst, die Opposition etwas zugelegt. Jetzt kommt noch die Belastung durch den Konflikt um die Abtreibung dazu, was ihr einen weiteren Popularitätsverlust bescheren wird. Bereits hat eine allerdings nicht repräsentative Umfrage des grössten Onlineportals ergeben, dass 92 Prozent den Entscheid des Verfassungsgerichts ablehnen. Vor allem junge urbane Wählerinnnen und Wähler werden sich noch deutlicher von der PiS distanzieren
Wieweit Oppositionsparteien davon profitieren können, ist allerdings unsicher. Die grösste Oppositionspartei, die liberal-konservative PO (Bürgerverständigung), hat sich zwar gegen eine Verschärfung des Abtreibungsgesetzes ausgesprochen, ist aber auch gegen Liberalisierungsschritte. Am ehesten könnten kleine linke oder unabhängige Parteien zulegen, die sich in dieser Sache mehr engagieren. Die Skepsis gegenüber den Politikern ist aber generell unter den Jungen weit verbreitet. Die Protestbewegung ist politisch weitgehend ungebunden und wird vor allem von einigen NGOs mitgetragen.
Mögliche Konsequenzen für die katholische Kirche
Die katholische Kirche gehört scheinbar zu den Gewinnern in diesem Konflikt. Sie wird aber am meisten darunter leiden, da sie für viele die Hauptverantwortung für diese krasse Missachtung der Mehrheitsmeinung trägt. Ihr konservativer Kurs wird ihren Führungsanspruch in moralisch-ethischen Fragen weiter aushöhlen und die Säkularisierung der Gesellschaft vorantreiben. Sie ist in letzter Zeit sonst schon wegen diversen Pädophilieskandalen unter Druck geraten.
Polen stehen wieder unruhige Zeiten bevor. Die Proteste werden weitergehen. Für den Montagnachmittag wurden in vielen Städten Verkehrsblockaden angekündigt, für den Freitag erneut Demonstrationen und eine Grossdemo in Warschau.