Wir erleben ein Kopf-an-Kopf-Rennen (oder blicken darauf zurück, je nach aktuellem Stand der US-Wahl beim Erscheinen dieser Kolumne). Was da abläuft, zerschleisst die Nerven: Dem Blauen werden erst grosse Siegeschancen zugesprochen, dann schlägt sich der Rote über Erwarten gut und schiebt sich nach vorn, um schliesslich doch vom Gegner wieder eingeholt zu werden. Nun spurten sie auf der Zielgeraden Kopf an Kopf. Wäre die Wahlschlacht von Suspense-Spezialisten gescriptet, sie könnte nicht dramatischer verlaufen.
So wird uns die US-Wahl geschildert, und so erleben wir sie tatsächlich. Zwar ist uns dabei bewusst, dass wir es mit einem Wahlnarrativ zu tun haben, das lediglich auf die Analogie zu einem Wettlauf zurückgreift. Die Kandidaten rennen sich nicht wirklich auf einer Tartanbahn die Seele aus dem Leib. Dennoch stellen wir die Suggestion, die Realtime-Wahlberichte würden einen eben jetzt stattfindenden Wettkampf verfolgen, bei dem mal der eine, mal der andere in Front liegt, nicht in Frage.
Bloss machen wir uns damit etwas vor. Der Wettkampf wurde nämlich mit der Schliessung der Wahllokale und dem Termin für das Absenden der Briefwahlstimmen beendet. Was ganz Amerika und fast die ganze Welt danach in Atem hält, ist lediglich die Ermittlung des Resultats. Dieses Ergebnis gibt es schon, es ist nur noch nicht bekannt. Erst langsam setzt es sich vor unseren Augen aus vielen Teilergebnissen zusammen, die in zufälliger Folge herauskommen. Diese Zufälligkeit ist es, die das Drama kreiert, weiter nichts.
Würden wir den Vorgang so nüchtern sehen, er könnte uns kaum durch Höhen und Tiefen jagen. Statt des dramatischen Spurts auf der Zielgeraden sähen wir viel eher den emsigen Betrieb eines Ameisenhaufens: das an Tausenden von Anlaufstellen erfolgende mehr oder weniger langwierige Sortieren und Zählen roter und blauer Voten, die von regionalen Zentren gesammelt und in Elektorenstimmen umgewandelt werden, die wiederum sich im zufälligen Takt ihres Eintreffens zum Wahlresultat addieren. Es ist eine riesige Maschine, die ab und zu etwas knirscht und hakt, aber kein agonales Drama.
Trotzdem sehen und erleben wir einen Kampf, ein Kopf-an-Kopf-Rennen. Wir sind auf Drama programmiert, nehmen Ereignisse in Form von Erzählungen wahr. Es sind nicht «die Medien», die uns das einreden, sondern die Berichterstatter halten sich an das, was sie aufgrund ihrer Wahrnehmungsdisposition selbst erleben und ihr Publikum aus dem gleichen Grund von den Berichten erwartet.
Diese ungemein beliebte Dramastruktur ist auch der Grund, weshalb die gleichzeitigen – für die USA äusserst wichtigen – Kongresswahlen kaum Beachtung finden. Sie lassen sich eben nicht spannend erzählen, die Kandidierenden sind kaum bekannt und die Senatoren- und Repräsentantenwahlen überfordern mit der Vielzahl ihrer Protagonisten unsere Aufmerksamkeit. Die Präsidentenwahl hingegen funktioniert als Story hervorragend, erst recht durch das knappe Resultat.
Wir malen uns die Welt gerne bunt. Etwas Langweiligeres als Zählen gibt es kaum. Also kleiden wir es in die bewährte Form des Titanenkampfs. Unterhaltender als die dröge realistische Sichtweise ist die Fiktion des Wahldramas auf jeden Fall. Geniessen wir den Nervenkitzel! Er kommt nicht so bald wieder.